Ich möchte auf dem Laufenden bleiben:
Bereits erschienen:
Zofingen, 4800, historische Perle des Aargaus, die Thutstadt. Doch wer sind diese Thuts überhaupt? Was beschäftigt sie? Wie denken sie? Wovon träumen sie? Die folgenden in unregelmässigen Abständen auf dieser Seite veröffentlichten Texte werden Ihnen einen kleinen Einblick in die Welt der Thuts geben.
Über die Thuts:
Zofingen besteht derzeit aus 11’937 Thuts (Stand 30.06.2019), davon schreiben vier Thuts aus Zofingen und der ferneren Umgebung. Dies sind derzeit: Cheryl Kubin, Elisa Marti, Ahmed Ajil und Nicolas Scheibler
Jede Kolumne wird ausserdem von der Exil-Thutin Celia Gerber illustriert.
Cheryl Kubin
Es war ein regnerischer Freitagnachmittag, der Leserei-Thut sass am Schreibtisch und beschäftigte sich mit dem Abwickeln von Kundenbestellungen.
Die Tür zur Buchhandlung hatte er zwecks regelmässiger Frischluftzufuhr offen gelassen, auch
weil er die Geräuschkulisse der Altstadt beim Arbeiten genoss. Hin und wieder klingelte das Telefon (wobei das Wort Klingeln diesem ausgefuchsten Rufton nicht ganz gerecht wird), Kundinnen und Kunden gingen ein und aus, liessen sich beraten, bestellten Bücher, holten Bestellungen ab, schmökerten und besahen sich die schöne Kartenauswahl.
Ein ganz gewöhnlicher Freitagnachmittag eben – bis zu dem Moment, als das Glockenspiel losging. Denn das, was normalerweise ein akkurater Vortrag altbekannter Lieder war, klang an diesem Nachmittag irgendwie anders.
Der Leserei-Thut spitzte die Ohren und versuchte eine Melodie auszumachen, als das Spiel stockte, verharrte und dann wieder von neuem begann, nur um kurz später ein weiteres Mal zu stoppen und denselben Anschlag erneut zu spielen.
Nun war Thut sich seiner Sache sicher – da übte jemand!
Gleich darauf fiel ihm auch ein warum – nur zwei Tage zuvor hatte er sich den Aushang angesehen – zur Feier des Thütischen Ordens (vgl. Ahmed Ajil: Neues aus dem Thut-Café) war am Samstag ein Glockenspielkonzert, unter anderem mit ukrainischen Liedern, geplant.
Der Leserei-Thut fragte sich, wie es wohl wäre ein Glockenspielkonzert vorzubereiten. Das war wohl nichts, was man nachts klammheimlich tat. Was ihn in Gedanken zu den Theater-Thuts brachte. Die bereiteten nämlich auch gerade etwas vor. Kein Konzert – dafür hatte man einen Pianisten angeheuert – sondern ein Schauspiel.
Am 3. Juni würden sie in der Stadtkirche auftreten. Ob sie wohl schon dort übten? Thut war schon länger nicht mehr in der Kirche gewesen. Vielleicht sollte er ihnen einmal einen Besuch abstatten und sich die Sache näher ansehen. Also die Theater-Sache und nebenbei auch die Kirchensache. Wobei wir dann wieder beim Glockenspiel und dem Üben in der Öffentlichkeit wären. Vielleicht nicht ganz vergleichbar, zumal der Leserei-Thut nicht soweit gehen würde, sich als DIE Öffentlichkeit zu bezeichnen. Bevor Thut gedanklich noch weiter abdriften konnte, nahm er geschwind seine Agenda zur Hand um zu überprüfen, ob er sich den Termin auch eingetragen hatte. Ach ja, da stand es in Grossbuchstaben:
LICHTBLICKE 19:30 Uhr Stadtkirche !!
Zufrieden legte Thut die Agenda zur Seite und machte sich wieder an die Arbeit, während der Glöckner (oder die Glöcknerin?) ebenfalls weiter in die Tasten haute.
Ahmed Ajil
Ich hörte ihm gerne zu. Wie er Geschichten erzählte über sein Leben. Er hatte ja schon viele Jahre gelebt, viele Länder bereist und viele Leute getroffen. Und darüber redete er gerne, meist stundenlang.
Ich hatte aber nicht immer stundenlang Zeit und musste mir dann jeweils überlegen, welche Ausrede ich ihm denn heute auftische, um mich aus dem Staub zu machen. Und auf den richtigen Moment warten. Ja, den Moment finden, das war eine knifflige Angelegenheit. Denn er sprach zwar langsam, machte aber kaum Pausen zwischen seinen Sätzen. Er war wohl einer dieser Menschen, die Mühe haben, abzuschliessen. Mit den Sätzen, aber auch mit der Vergangenheit. Er war so sehr mit seiner Vergangenheit beschäftigt, dass ihm das Jetzt davonzulaufen schien.
Unsere Treffen liefen jeweils ab wie nach Drehbuch. Ich kam, mähte den Rasen, wenn das Gras wieder über die tolerierbare, circa kniehohe, Länge gewachsen war, leerte den Auffangeimer im Kompost, wusch mir die Hände und setzte mich an den Gartentisch. Er kam raus und brachte mir ein Birnenweggli und den Fünfliber. Ja, „S Weggli und de Batze“, in der Tat, aber ich hatte mir ja beides mehr als verdient. Dazu gab es noch ein Glas Wasser. „Wassertrinken ist wichtig“, sagte er immer wieder. Darum sei er krank geworden. Weil er zu wenig Wasser getrunken hätte, als er jung war. Er räusperte sich dann gleich laut, als wollte er, bewusst oder unbewusst, die Bedeutung seines Ratschlags unterstreichen.
Dann die Geschichten. Ich sass da, ass mein Birnenweggli und hörte ihm zu. Wenn ich den richtigen Moment gefunden hatte, verabschiedete ich mich und ging wieder nach Hause.
Ich konnte sein Haus von meinem Zimmer aus sehen. Bevor ich zur Schule ging, schaute ich manchmal rüber. Wenn das Badezimmerfenster auf dem ersten Stock gekippt war, dann war er wach.
Er war eigentlich immer wach, wenn ich zur Schule ging. Doch irgendwann kam es immer häufiger vor, dass das Fenster noch geschlossen war. Er bat mich auch immer seltener, den Rasen zu mähen. Die tolerierbare Grenze war mittlerweile auf Hüfthöhe gestiegen. Er kam auch nicht mehr raus, nachdem ich fertig war, sondern stellte mir das Birnenweggli hin und legte den Fünfliber daneben.
Ich bin mir im Nachhinein nicht sicher, ob ich damals wusste, dass er bereits dabei war, Abschied zu nehmen. Von der Welt, von uns. Es wurde mir jedoch spätestens bewusst, als ich an einem Frühlingsabend an seiner Bettkante stand, in seinem Zimmer, das roch wie Zimmer von alten Menschen nun mal riechen. Den Kopf etwas erhöht liegend, seufzte er, die Augen geschlossen und sagte: „Weisst du, ich bin bereit. Ich bin bereit zu gehen.“
Am nächsten Morgen war es so weit. Er hatte endlich abgeschlossen. Mit den Sätzen. Mit der Vergangenheit. Mit dem Leben. Mit uns.
Nicolas Scheibler
Januar, Neujahr, Neuanfang. Gute Vorsätze und die ernüchternde Rückkehr des Alltags. Seien Sie ehrlich,
an wie vielen Neujahrsvorsätzen sind Sie dieses Jahr bereits gescheitert? Wann haben Sie Ihren
«Dry January» dieses Jahr zum ersten Mal mit einem Glas Weisswein hinuntergespült? Wann haben
Sie die erste Gelegenheit zum mehr Sport machen sausen lassen, gefolgt von der zweiten und der
dritten? Wann und wie oft haben Sie wirklich Yoga gemacht, sich für den Sprachkurs angemeldet, für
die Weiterbildung? An welchem Tag ist Ihnen die gesunde Ernährung verleidet, an welchem Tag haben
Sie Ihren fleischlosen Montag bereits mit einem Hamburger zelebriert? Von der ersten Parisienne des
Jahres ganz zu schweigen.
Sie sind gescheitert. Natürlich sind Sie das. Scheitern gehört dazu. Alle Menschen scheitern regelmässig,
einige täglich, andere stündlich. Thut ist in Sempach gescheitert und Zofingen an einer würdevollen
Nutzung des Thutplatzes. Scheitern ist ein Teil des Lebens und sollte deshalb nicht überbewertet werden,
denn scheitern kann nur, wer überhaupt etwas versucht. Ohne das Scheitern gäbe es bloss den
unspektakulären Turm von Pisa. Ohne das Scheitern wäre Christopher Kolumbus in Indien gelandet
und der Hamburger und die Parisienne, an denen Sie gescheitert sind, wären nie erfunden worden.
Ohne Versuch gäbe es Stillstand und Stillstand bringt uns als Menschen nun einmal nicht weiter.
Entscheidend, liebe Leserin, lieber Leser, ist doch, wie wir mit unserem eigenen Scheitern umgehen.
Stehen wir auf oder bleiben wir liegen? Mag es manchmal verlockend wirken einfach aufzugeben, gilt
es zu doch beachten, dass jedes Scheitern gleichzeitig unendlich neue Möglichkeiten mit sich bringt.
Sie stehen auf der Verliererseite bei der Schlacht von Sempach? Essen Sie die Fahne und werden Sie
zum Stadthelden von Zofingen! Ihr Vorgesetzter interessiert sich nicht für Ihre Idee eines «personal
computers»? Gründen Sie Apple! Die Geschichte ist voll von Menschen, die ihr Scheitern in Erfolg ummünzen
konnten. Andere wiederum sind daran gescheitert.
Natürlich werden die meisten von uns durch ihr Scheitern nicht zu Stadtheldinnen oder Tech-Milliardärinnen,
aber wir können lernen, dass man, solange man lebt, im Leben selbst nicht wirklich scheitern
kann. Vielleicht sollten wir die Vorstellung des Scheiterns einfach lockerer angehen und uns gleichzeitig
bewusst sein, dass wir auch an diesem Vorsatz scheitern können.
Wie sagte der Krimiautor Veit Heinichen doch so schön über seinen 108-jährigen Berufskollegen Boris
Pahor: «[…]aber bis jetzt hat er jeden angekündigten Tod gut überstanden.».
Elisa Marti, Cheryl Marti und Celia Gerber
Ahmed Ajil
Thutstadt, 16.12.21
Lieber Freund, liebe Freundin
Wenn der Frost durch die Thutstädter Gassen zieht,
die Pflastersteine umschlingt und einkleidet,
die Bäume bis in die Wurzeln erstarren lässt,
und die Thutstädterinnen praktisch in den Lockdown zwingt,
dauert es nicht lange, bis mit dem Weihnachtsmarkt alles daran gesetzt wird,
wieder Heiterkeit und Wärme zwischen die grauen kalten Mauern zu bringen.
Und das schafft er eigentlich auch.
Nicht aber dieses Jahr. Nicht bei mir.
Weder die vertrauten Gesichter, noch der Glühwein und der Punsch,
weder die Musik noch das Singen und Lachen,
weder die heissen Marroni noch die saftigen Berliner werden es dieses Jahr vermögen, Wärme unter die vier oder fünf Schichten Kleidung zu bringen, in die ich mich am liebsten abseits des Trubels verkriechen möchte, bis die Wintertage vorüber sind.
Wie bitte? Dieses Jahr gibt es gar keinen Weihnachtsmarkt in der Thutstadt? Siehst du, sogar der lässt mich im Stich.
Ich glaube, dir geht es momentan auch so. Oder ähnlich. Vielleicht bist du auch traurig, fühlst dich leer, einsam, verlassen oder hintergangen. Und deshalb hier einfach ein paar Zeilen, um dir zu sagen: du bist nicht allein. Ich denk an dich.
Herzliche Grüsse,
Melancholie-Thut
Nicolas Scheibler
Zofingen, 16.12.2021
Liebe Freundin, lieber Freund
Gerne möchte ich diesen Brief nutzen, um dir meine grossen Pläne für das neue Jahr mitzuteilen.
Mit dir möchte ich eine Sandburg bauen. So gross, dass wir beide uns darin verstecken können. Mit einem Wassergraben, der uns vor Gefahren von aussen schützt, über den wir die Zugbrücke legen können für alle
diejenigen, die wir mögen. …oder halt einfach ein grosses Loch im Sand, in welches wir uns eingraben können.
Mit dir möchte ich ein Baumhaus bauen. Ganz hoch oben in den Baum-
kronen, unter dem dicken Blätterdach, wo Wind und Wetter uns nichts anhaben können. Wo Vögel uns am Morgen mit ihrem Gesang wecken und Eichhörnchen unsere Corn Flakes stehlen. …oder wir übernachten
gemeinsam im Garten, weil wir uns betrunken aus unserer Wohnung
ausgeschlossen haben.
Mit dir möchte ich die sieben Weltmeere bereisen. Welten, Kulturen und Menschen entdecken. Zu fremdklingender Musik tanzen, barfuss über Palmenstrände rennen und dazu Früchte in allen Farben des Regenbogens naschen. …oder wir schlafen auf der Luftmatratze ein und holen uns den Sonnenbrand unseres Lebens.
Ob unsere Pläne nun mit Aspirin, Aloe Vera oder blauen Flecken enden – ich freue mich auf gemeinsame grosse Taten im neunen Jahr.
Frohe Festtage wünscht dir
der Grosse-Pläne-Thut
Cheryl Marti
Thutstadt im Dezember 2021
Lieber Freund, liebe Freundin
Weihnachten naht und ich sitze in der Küche, die letzte Fuhr Guetzli kühlt gerade auf dem Gitter ab, während Mariah Carey im Radio singt, dass ihr Weihnachten gar nicht so am Herzen liege und es nur eine Sache gäbe, die sie wirklich brauche. Und wie so oft, wenn ich Songs mit Tiefgang höre, beginne ich über das Leben nachzudenken.
Ich frage mich, was Weihnachten denn für mich bedeutet, mal abgesehen von Glitzerdeko und Familienfesten. Eigentlich sind mir die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum ja auch nicht wichtig, ich habe alles was ich brauche, und wenn ich mich trotzdem freue, dann vor allem darum, weil sich jemand darüber Gedanken gemacht hat, wie er mir eine Freude bereiten könnte. Und jetzt denke ich an dich und an die inspirierenden Gespräche, die wir viel zu selten führen und ich frage mich – wenn du einen Wunsch frei hättest, was das wohl für einer wäre? Und, um noch ein wenig weiter zu sinnieren – mal angenommen, du könntest dir den Wunsch selbst erfüllen, würdest du es tun? Und wenn du es tätest, wärst du dann glücklicher als vorher?
Nun wünsche ich dir frohe Festtage und dass du dein Herz dieses Jahr jemandem schenkst, der es nicht gleich weiter gibt. Denn darüber ist Wham offenbar seit Jahren nicht hinweg gekommen.
Ich schicke dir eine Schneeflocke,
dein Wunsch-Thut
Elisa Marti
Liebe Freundin, lieber Freund
Du wirst es nicht glauben, aber nach mehreren Anläufen habe ich es gestern in den frühen Abendstunden endlich geschafft, den prachtvoll erleuchteten Weihnachtsbaum auf dem Postplatz zu erklimmen! Bis ganz nach oben in die Baumkrone bin ich geklettert. Läck, war das ein Krampf, aber gelohnt hat es sich, das sag ich dir. Nicht nur wegen dem grandiosen Ausblick auf die kleinen Menschlein unter mir, sondern weil ich es dem Felix vom Bauernhof voller Genugtuung unter die Nase reiben kann. “Stubentiger” nennt er mich immer. Dabei ist das Leben in den Gassen kein Honigschlecken. Manchmal ist es ein regelrechter Spiessrutenlauf durch all die kontaktwütigen Menschen, die mich streicheln wollen. Verdenken kann ich es ihnen nicht, mein Pelzkleid ist schliesslich wirklich seidenfein. Jedenfalls war auch dieser Aufstieg ziemlich abenteuerlich. Auf halbem Weg wäre ich nämlich beinahe abgestürzt! Hochkonzentriert habe ich mich von einem Ast zum nächsten vorgetastet, da ertönte plötzlich eine hauchige Stimme hinter mir: “Säg emou, was machsch du do?” Vor Schreck rutschte mir nicht nur das Herz in die Hose, wie die Menschen sagen, sondern auch die Pfote vom Ast, und ich blieb gerade noch so mit den Vorderbeinen über dem Ast hängen. Jetzt sass da drin tatsächlich ein kleiner Kauz auf Städtetrip!
Wir brachen beide in lautes Gelächter aus – er wegen meiner Ungeschicklichkeit, ich vor Erleichterung, mit heiler Haut davongekommen zu sein. Danach haben wir uns ganz oben mit Blick auf die hell erleuchtete Thut-Stadt prächtig unterhalten – von Mäusejagd bis Fell- und Federpflege. Morgen treffen wir uns wieder. Dies in aller Kürze meine Krönung des Jahres. Was waren deine Höhepunkte?
Liebe Grüsse,
Kater-Thut
Nicolas Scheibler
Zofingen, 16.12.2021
Lieber Freund, liebe Freundin
Es ist saukalt! Ständig friere ich. Es zieht und es ist nass. Wenn ich am Morgen aus dem Haus gehe ist es dunkel,
dazwischen neblig und wenn ich heimkomme wieder dunkel. Was für ein Scheiss!
Dazu ständig die aufgesetzte weihnacht-
liche Fröhlichkeit. Überall dieses
konsumorientierte Frohlocken! Wo ich auch hingehe, treffe ich fremde Menschen, die mir frohe Festtage wünschen. Vielleicht will ich das gar nicht! Vielleicht möchte ich ja trübsinnige Festtage oder gar keine Festtage! Wie ich mir meine Festtage wünsche ist privat und geht niemanden etwas an.
…und von dieser schrecklichen allumspannenden Weihnachtsmusik seit Oktober und dem überbordenden Guetzli / Kerzen Terror wollen wir gar nicht erst sprechen!
Naja, aber dich mag ich und damit du das weisst, sollst du diesen Weihnachtsbrief
erhalten.
Frohe Weihnachten (so froh, wie es eben geht)
Thut-Hässig
Ahmed Ajil
Unserer Stadt, Dezember 2021
Liebe Freundin, lieber Freund
In diesen Märkten, diesen strengen,
umgeben von Lichtern und Gesängen,
klirrenden Gläsern und festlichen Klängen,
in diesen Gassen, diesen engen,
dicht gedrängten Menschenmengen,
ist mir danach, davonzurennen.
Weg von den Menschen, in deine Arme.
Denn du machst mich glücklich, du gibst mir Halt. Du.
Mein Ort der Zuflucht, mein sicherer Hafen,
mein Fest der Liebe.
Du bist der Tannenbaum und ich dein treustes Blatt,
du bist die Nacht und ich die Stille,
du bist mein fröhlichstes alle Jahre wieder,
du bist die Jingle und ich die Klingel,
du bist mein Weihnachten, jeden Tag.
In der Hektik, im ganzen Trubel, jahrein jahraus,
vergiss das nicht:
Du bist mein Weihnachten, jeden Tag.
Dein Thut-Amour
Cheryl Marti
Nach anfänglichen Anfahrtsschwierigkeiten war Thut tatsächlich unterwegs. Unterwegs mit
dem Cruiser. In der ersten Kurve suchte er vergeblich nach der Bremse, bis zur zweiten hatte
er gelernt, dass er diese Arbeit den Füssen überlassen musste, wobei seine Hände intuitiv
hinter dem Griff in die Leere tasteten, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde.
Nachdem dann die erste Steigung, die erste Brücke und die erste Abfahrt geglückt waren,
entspannte er sich langsam, liess den Oberkörper ein wenig mehr nach hinten sinken, legte
den Kopf in den Nacken und vollführte mit den Beinen wunderbar runde, genüssliche Tretbewegungen – es fühlte sich an wie Pedalobootfahren ohne Wasser.
Beseelt blinzelte Thut in die Herbstsonne, für einen kurzen Moment dachte er wehmütig an
die Sonnenbrille, die er zu Hause hatte liegen lassen – er hätte toll ausgesehen auf dem
Cruiser, mit der Lederjacke, dem neuen Schal und der schnittigen Sonnenbrille, die er sich
letzten Sommer geleistet hatte. Nichtsdestotrotz war die Fahrt fantastisch, den alten
Ledersattel unter dem wohlgeformten Hintern, die geschmeidigen Griffe in den Händen und
die in die Jahre gekommene Funzel, die sich Velolicht brüstete, im Blick.
Mitleidig betrachtete Thut die anderen Velofahrer, die einsamen Räder vor Hauseingängen.
Warum bloss hatten sich so wenige Modelle durchgesetzt? Wann war aus dem stolzen
Drahtesel ein Fahrrad geworden, das lediglich in Punkto Gewicht, Effizienz und Preis zu
überzeugen hatte? Wann war die Frage des Stils nebensächlich geworden? Wieso war das
Verlangen ein Ziel möglichst schnell zu erreichen so viel wichtiger, als mit grösstmöglichster
Eleganz anzukommen?
Thut war sich sicher – hätte die Menschheit die Möglichkeit ihre Vielfalt bereits bei der Wahl
des Fahrzeugs auszudrücken, wäre sie glücklicher.
Es gäbe ja so viele Arten sich fortzubewegen – warum wurden sie nur Kindern zugestanden?
Man stelle sich einen Erwachsenen auf einem Laufvelo vor oder in einem Gokart zur Arbeit
fahrend. Wo waren die Swingroller für Menschen über 1.40m? Warum waren Einräder
Zirkusartisten vorbehalten und wieso in aller Welt waren die Hochräder verschwunden? Und
dann gab es da noch diese Tretdinger, die sich Thuts Kinder aus der Ludothek ausliehen, mit
den Brettchen zwischen den Rädern, oder die Dreiräder mit der Sitzbank hinter dem Sattel. Ja
– warum hatte Thut eigentlich kein Tandem? Er könnte mit Frau Thut in trauter Zweisamkeit
ins Restaurant radeln. Im Takt tretend, das würde sie bestimmt auf einen romantischen
Abend einstimmen. Gab es eigentlich auch Räder mit drei, vier oder fünf Sitzen? Oder solche,
bei denen die Pedalen in der Höhe verstellbar wären? Ein Rad für die ganze Bande? Familie
Thut auf der Sonntagsfahrt – was für ein Bild! Enge Kurven und Brücken würden sie
vielleicht auslassen müssen, aber wen interessierten enge Kurve und Brücken, wenn in
familiärer Eintracht in die Pedalen getreten werden konnte?!
Während Thuts Gedanken sich auf allerlei kuriosen Gefährten in alle Himmelsrichtungen
davonmachten, radelte er mit einem breiten Lächeln der Wigger entlang und merkte erst als er
die Schnellstrasse in Oftringen erreichte, dass er zu weit gefahren war.
Elisa Marti
Ich bin alt geworden, ging es Thut durch den Kopf. Nicht zum ersten Mal. Der Gedanke kam ihm in letzter Zeit immer öfter. Er löste Gefühle in ihm aus, die schwer zu fassen waren und die er manchmal ganz bewusst verdrängte. Alt und trotzdem nicht der Alte! Ein müdes, selbstironisches Lächeln überflog bei dem miesen Witz sein Gesicht. Zuerst hatte sein Körper nicht mehr mit seinem Geist mitgehalten. Er konnte es kaum aushalten, seiner einige Jahre jüngeren Ehefrau aus dem Wintergarten zuzusehen, wie sie sich beim Schneeschaufeln oder Rasenmähen abrackerte. Doch nachdem er bei der Gartenarbeit gestürzt war, liess sie es sich nicht mehr nehmen, nach und nach auch seine Haushaltsämtli zu übernehmen. Sie tat es mit einer Selbstverständlichkeit, für die er ihr unendlich dankbar war. Doch wurde ihm gleichzeitig widerwillig bewusst, wie abhängig und fremdbestimmt er auf einmal geworden war. Er war auf Hilfe angewiesen, die er sehr ungern annahm, weil er sich seiner bisher so selbstverständlich angenommenen Autonomie beraubt fühlte. Sein Wirkungsfeld wurde eingeschränkt, obwohl seine Interessen noch immer Gott und die Welt umfassten. Er war nicht mehr der junge Spund, der um den Globus reiste und eine Grossfamilie ernährte. Er hatte das Hochalter erreicht und war nun gezwungen, loszulassen und sich auf eine neue, ihm völlig unbekannte Situation einzulassen. Eine geistige Herkulesaufgabe für einen alten Mann, wie er fand. Er musste lernen, mit körperlichen Einschränkungen und zunehmender Unsicherheit im Gleichgewicht umzugehen. Seine Energie und sein Aktionsradius nahmen ab, während sich einschneidende Beziehungsverluste im engeren Umfeld vermehrten. Es führte ihm vor Augen, dass der Lebensabschnitt vor ihm ebenfalls immer kürzer wurde und er die Zeit, die ihm noch blieb, gut einteilen musste. Dass seine Frau vor ihm das Ende ereilen könnte, daran wollte er gar nicht erst denken. Er musste lernen zu verzichten und Abschied zu nehmen. Von geliebten Menschen, von Gewohnheiten, von der uneingeschränkten Selbstbestimmung. Mittlerweile liess ihn auch sein Gedächtnis immer öfter im Stich. Manchmal schrieb er sich eine Notiz, nur um kurze Zeit später keine Ahnung mehr zu haben, was er damit gemeint hatte. Das schlimmste war: Es war ihm furchtbar peinlich. Kürzlich hatte er seine Enkelin um Hilfe bei einem Computerproblem gebeten. Sie hatte es mit einem Klick auf die Delete-Taste gelöst… Wenn er mit Jüngeren darüber sprach, wie sein Erinnerungsvermögen nachliess, antworteten die meisten mit gut gemeinten, aber nutzlosen Plattitüden. «Aber das geht mir doch genauso! Das ist völlig normal. Man wird halt nicht jünger!». Sie vergassen daheim ihren Einkaufszettel oder das Fenster im Badezimmer zu schliessen. Sie hatten keine Ahnung wie es ist, sich in einer Konversation partout nicht mehr an den Namen des jüngsten Familienmitglieds zu erinnern und dabei zuzusehen, wie sich in der Miene des Gegenübers das Mitleid ausbreitete. In Gesprächen verlor er den Anschluss, weil er auch mit verminderter Ausdrucksfähigkeit und Denkgeschwindigkeit konfrontiert war. Ich bin alt geworden, dachte Thut erneut. Aber das war auch gut und recht so. Er hatte bis ins hohe Alter grösstenteils gesund und zufrieden gelebt, gelacht und geliebt. Ihm hatten sich die Pforten der Welt geöffnet, er hatte sechs Kinder grossgezogen und eine Schar von Enkelinnen und Urenkeln aufwachsen sehen. Er hatte seinen Teil geleistet und war dankbar dafür, was ihm das Leben bereitgehalten hatte. Er würde auch den letzten Abschnitt meistern, selbst wenn er dabei ein Stück seiner selbst zurücklassen musste. Er würde von schönen Erinnerungen zehren und in neuen Erlebnissen frischen Antrieb finden, bevor er schliesslich seine letzte Reise antreten würde.
Ahmed Ajil
Während ich auf dem Vorplatz meines Lieblingscafés in der Thutstadt genüsslich an meinem traditionellen Montagskaffee schlürfe, wird die idyllische Ruhe plötzlich gewaltsam von der Stimme des nervigen Moderators aus dem Inneren des Cafés durchbrochen, als Hassan, der Betreiber, zum Putzen die Türe sperrangelweit öffnet:
«…Claus Tuto, dem Mann, dessen Statue hoch über dem Zentrum der Altstadt ragt, gebührt alle Ehre. Kein Passant geht an diesem Brunnen vorbei, ohne vor Ehrfurcht wie verwurzelt stehen zu bleiben, des Clausus Gluteus Maximus zu bewundern, und sich zu fragen, wie treu die Nachahmung die damaligen realen Dimensionen wiedergibt. Ja, nicht nur äusserlich, sondern auch innerlich ist er wahrlich der Stolz der Thutstadt, verkörpert er doch all die Werte und Tugenden, die unserer thutischen Zivilisation zugrunde liegen: Kraft, Bestimmtheit, Zielstrebigkeit, Fleiss, Loyalität, Mut, Tapferkeit, Bescheidenheit und Gottesfurcht. Ja, der Claus, das ist ein Mann für die Bücher!»
Ach, ein weiteres Loblied an unseren Stadthelden, denke ich mir, seufzend. Nicht, dass er das nicht verdient hätte. In der blutigen Schlacht von Sempach am 9. Juli 1386 soll er ja bekanntlich bis zum bitteren Ende gekämpft haben. Wie die Schwerter und Lanzen schon in seiner Brust versanken, soll er noch, die letzten seiner Kräfte mobilisierend, das Thutstädter Wappen von der Stange gerissen und verschlungen haben, um es vor jeglicher Schmach zu bewahren. Für Gott, sein Vaterland und seine Familie habe er sich geopfert, ohne einen Ton von sich zu geben oder eine Träne zu vergiessen – im Gegenteil: ein zufriedenes Lächeln soll sich mit den letzten Atemzügen auf seinem Gesicht ausgebreitet haben. Denn im Kampf für eine gerechte Sache zu fallen, sei ja letztendlich trotz allem die grösste Ehre eines wahren Mannes.
Aber die ganze Vergöttlichung, die ist schon unheimlich. In der Thutstadt ist der Claus auf jeden Fall unantastbar. Man wagt es kaum, zu hinterfragen, wie die Statue denn überhaupt dahin gekommen ist. Und wieso da nicht mehr die Justitia steht, die offenbusige (wieso eigentlich?) Verkörperung der Gerechtigkeit. Böse Zungen munkeln, dass der Thütische Orden – dessen Namen öffentlich keiner auszusprechen wagt – der Stadtregierung gedroht habe, seine Mitglieder aus der ganzen Welt für einen Strassenchor in die Thutstadt zu bestellen, und so erwirkt habe, dass das Projekt des Thutbrunnens ohne Wenn und Aber in Windeseile durchgewinkt wurde – wenn das doch auch bei den wichtigeren Bauvorhaben so schnell gehen würde!
Dass also der Clausi unantastbar ist, das hängt zu einem grossen Teil damit zusammen, dass dieser ominöse Orden hinter der Errichtung seines Denkmals steht. Dass sich dieser suspekt homogene Teich an Mannskörpern, der keine Frauen in seinen Reihen duldet (ausser es handelt sich um solche, welche das ansonsten triste Dasein eines Mitglieds aufwerten könnten), gerade mit dem Tuto identifiziert, ist gewiss nicht weit her geholt. Tapferes Heldentum wird denn auch bei der sogenannten Mensur grossgeschrieben, dem traditionellen Fechtkampf, der unter solchen Orden Brauch ist. Wer schnell und kraftvoll den Schläger zu schwingen versteht, den Hieben des Gegners standhält, dabei seine Emotionen unter Kontrolle hält, keine Furcht zeigt und zu keinem Zeitpunkt zurückweicht – ja, das sei gemäss dieser Weltanschauung der Mann, der es im Leben, der Gesellschaft, in der Arbeit und der Politik auch weit bringen werde.
Dabei wird ausgeblendet (oder nicht), dass das auch diejenigen patriarchalischen Werte und toxischen Vorstellungen der Maskulinität sind, die dem ausbeutenden Kapitalismus, dem militärischen Imperialismus, und dem strukturellen Sexismus zugrunde liegen.
Man muss selbstverständlich nicht gleich das Kind mit dem Bade, beziehungsweise, den Thut mit dem Brunnen, ausschütten. Aber dass der Claus – und vor allem die Statue – so eng mit dem Thütischen Orden zusammenhängen, das sollte uns als Thutstädterinnen und Thutstädter doch schon etwas zu denken geben. Als die Statue 1894 errichtet wurde, da befanden wir uns noch in einem ganz anderen Zeitalter. Vielleicht wäre es Zeit für ein Umdenken, einen Umschwung, oder gar eine Umwälzung?
Als ich meinen gedanklichen Monolog weiterführe, füllt allmählich eine Portion Mut meine Brust und mir ist danach, lauthals über den Vorplatz zu schreien «Runter mit dem Patriarchat – runter mit dem Thut!», um die Gäste aus ihrem apathischen Gehorsam wachzurütteln. Ich richte mich von meinem Stuhl auf, zupfe mein Hemd zurecht, atme tief ein, schliesse nochmals kurz die Augen und male mir aus, wie meine Stimme durch jede Passantin, jedes Fensterglas und jeden einzelnen Pflasterstein fährt und sie ehrfürchtig erzittern lässt.
Als ich schon losbrüllen möchte, stupst mich auf einmal etwas von hinten in die Waden: «Sorry, mein Lieber, darf ich da kurz unter deinem Tisch wischen?», fragt mich Hassan, der sich offensichtlich der Gewichtigkeit der Situation nicht bewusst zu sein scheint. Verdutzt weiche ich wortlos zur Seite, als wäre grad ein Elefant in die letzten Minuten meiner Yogastunde geplatzt.
«Ich bringe dir auch gleich noch einen Capuccino, geht aufs Haus», sagt er, den Boden kehrend, als hätte er meine Empörung wahrgenommen. «Ja gerne, und bitte mit einer guten Portion Kakao auf dem Schaum», antworte ich rasch, als könnte das Angebot ablaufen. Dann zucke ich kurz mit den Schultern und setze mich wieder hin. Die Revolution muss warten.
Nicolas Scheibler
Hochverehrte Leserinnen und Leser, schon oft hat Thut in dieser Schreiberei Meinungen geäussert, Positionen bezogen oder gar süffisant an Tabus gekratzt. Ihre Feedbacks, Reaktionen, Kommentare und Leserbriefe sind uns daraufhin jeweils nur so zugeflogen und immer wieder haben Sie richtig bemerkt:
«Die Schreibenden dieser kleinen, vernachlässigbaren Kolumne sind völlig abgehoben. Diese elitären Schreiberlinge haben doch mit ihren idealistischen Thutopien völlig den Bezug zur Realität verloren. Die schweigende Mehrheit in unserer hehren Thutstadt wird völlig ausgeblendet.»
Da haben Sie natürlich recht. Wir haben das Unausgesprochene zu lange unausgesprochen gelassen. Die Stille und das Schweigen haben wir fälschlicherweise als Zustimmung interpretiert. Um wieder in Ihrer Gunst zu landen, wollen wir Busse tun. Deshalb haben wir uns bei Wind, Wetter und Sturm auf die Strassen und in die hintersten Winkel Zofingens gewagt und Aussagen von Bewohnerinnen und Bewohnern der Thutstadt zum Thema «Leben in Zofingen» gesammelt, die so nie geäussert wurden:
«Was mir an Zofingen gefällt? Das pulsierende kulturelle Leben. Wie die Stadt es schafft, Nachtleben und Nachtruhe in perfekter Balance zu halten.»
«Mir gefällt es, dass Zofingen es immer wieder überraschend schafft, sympathische Standortvorteile, wie zum Beispiel die Jugendherberge, ohne Not zu schliessen. Was nützt mir eine Jugendherberge? Ich habe schliesslich ein Haus.»
«Ich habe grosse Bäume schon immer gehasst. Schon von klein auf fand ich grosse Bäume schrecklich. Mich macht es glücklich, dass ein über hundertjähriger Baum einer durchschnittlichen Überbauung weichen muss. Wer eine Klimaanlage hat, kann auf Photosynthese verzichten.»
«Was mir in der Schifflände fehlt sind Recyclingmöglichkeiten. Wie oft sitze ich im Schatten einer Linde, blicke auf den Brunnen und decke mir: Wo entsorge ich am besten meine fünf Taschen voller Altglas, die ich zufälligerweise mit mir trage?»
«Mein grosser Lebenstraum ist es, nach Brittnau oder Oftringen zu ziehen.»
«Die Kirchenglocken sind zu leise, läuten zu kurz und zu selten.»
«Wenn es weder einen Zapfenstreich, noch ein richtiges Heiteren Open Air gibt, ist es dann wirklich ein richtiger Sommer? Wann fängt er dann an und wann hört er auf?»
«Kultur, Musik und Jugend gehören an den Stadtrand!»
«Ok, ich komme noch kurz mit in den Ochsen, nehme aber nur ein einziges kleines Bier.»
«Ich finde alles gut!»
Cheryl Marti
Der Frühling zeigte sich von seiner schönsten Seite, als Frau Thut die Pause zwischen zwei
Interviews nutzte um sich ihr Werk ganz in Ruhe aus der Perspektive des Liegestuhls
anzusehen. Natürlich war es vermessen von ihrem Werk zu sprechen, schliesslich hatte sie
weder am Bau noch am Umbau mitgewirkt, zumindest nicht faktisch, sie hatte ihn lediglich in
Auftrag gegeben.
Der Architekt war skeptisch gewesen – es würde nicht einfach sein, sie zu sanieren, ob sie
denn sicher sei, dass ..? Natürlich sei sie ein Bijou, aber für das Geld, das sie werde
investieren müssen, könne man ihr ohne weiteres ein neues ..?
Ob er sich die Arbeit nicht zutraute, hatte sie gefragt.
Doch, doch, natürlich, es sei nur so, dass der Aufwand..
Sie könne sich natürlich auch nach einem anderen Architekten umsehen, wenn ihm der
Aufwand zu gross sei, hatte sie entgegnet.
Nein, natürlich würde er den Auftrag gerne annehmen, selbstverständlich würde er .. das
Projekt sei für ihn natürlich spannend. Er wolle nur sichergehen, dass sie sich im Klaren
darüber sei, dass die vielen Jahre, in denen das Anwesen unbewohnt gewesen war, ihre
Spuren hinterlassen hätten.
Frau Thut hatte den Architekten eine Weile still gemustert und dann, während sie ihr
Notizheft einpackte, und sich zum Gehen bereit machte, gemeint, sie werde sich die Sache
noch einmal überlegen, sie sei sich nicht sicher, ob er genügend Ehrgeiz für das Projekt
mitbringe.
Sie hatte ihn ein paar Tage zappeln lassen und ihm den Auftrag dann doch gegeben. Mit dem
Resultat, dass er keinen einzigen Einwand mehr einbrachte und sie nur selten mit
Schwierigkeiten beim Umbau behelligte.
Das Resultat war durchaus gelungen. Alles war mit grösster Sorgfalt renoviert worden, von
aussen hätte man meinen können, jemand hätte die Zeit zurückgedreht und das Gebäude sei
eben erst erbaut worden. Auch in den Innenräumen war der Charme vergangener Epochen
nicht abhanden gekommen, wenn man von der Küche und vom Keller absah. Dort war
Funktion wichtiger als Form gewesen. Ja, Frau Thut war zufrieden. Sehr zufrieden. Nicht nur
das Hauptgebäude erstrahlte in neuem Glanz, auch das ehemalige Gärtnerhaus, in dem jetzt
vier Gästezimmer untergebracht waren, der Pavillon und die Brunnen.
Sogar die Umgestaltung der Allee war geglückt. Die Versicherungsgesellschaft, die das
Anwesen vor ihr gekauft hatte, hatte zum Leidwesen vieler Thuts alle alten Bäume gefällt,
weil sie beabsichtigte, dass Grundstück platt zu machen und eine fantasielose Überbauung
hinzuklotzen. Das Projekt war danach irgendwie ins Stocken geraten. Ob es mit der
Einsprache zu tun gehabt hatte, die einige Thuts erhoben hatten, hatte Frau Thut nicht
herausgefunden. Jedenfalls überliess man ihr das Anwesen zu einem ziemlich guten Preis.
Wahrscheinlich war man froh gewesen, sich nicht länger mit diesen starrköpfigen,
traditionsvernarrten Thutstädtern herumschlagen zu müssen.
Frau Thut hatte diesbezüglich wenig Probleme gehabt. Ihr Projekt hatte von Beginn an von
allen Seiten Zuspruch erhalten. Den Thuts gefiel die Vorstellung auf der Terasse der alten
Villa die Abendsonne bei einem Glas Wein geniessen zu können. Sie liebäugelten mit dem
Bild von sich selbst – strahlende Thuts, eloquent und weltmännisch wirkend vor der historisch
anmutenden Fassade der Villa.
Aber nicht nur die, die sich gerne auf der Terasse sehen lassen würden, unterstützten das
Projekt. Die Aussicht auf einen grosszügigen Heilkräutergarten, eine Blumenwiese, die Hecke aus Wildstauden
und heimischen Sträuchern, der Pflanzblätz, der die Küche mit saisonalem Gemüse versorgen
würde und die raren Federviecher, die sich frei auf dem Areal bewegen durften, wurden von
Ökos und Eltern gleichwohl begrüsst. Letztere hatten sich natürlich auch vom Barfusspfad
und den Spielgeräten, die sich nun überall auf dem Grundstück befanden, begeistern lassen.
Gemütlich Kaffee trinken, während der Nachwuchs zufrieden in Sichtweite spielte, was
wollte Thut mehr?
Ja, Frau Thut war sehr zufrieden. Es hatte sich schnell über die Grenzen der Thutstadt hinaus
herumgesprochen, dass die alte Fabrikantenvilla aus dem Dornröschenschlaf erweckt worden
war, sodass die wenigen Gästezimmer bereits für das komplette erste Jahr ausgebucht waren
und das Restaurant sich täglich neuer Kundschaft erfreute. Ausserdem war der Liegestuhl, der
ihr der Architekt zum Abschluss des Umbaus geschenkt hatte, äussert bequem.
Nicolas Scheibler
Sie, liebe Leserinnen und Leser, bzw. Sie, die stimmberechtigten Einwohnerinnen und Einwohner der glorreichen Thutstadt haben am 25.04.2021 wieder einmal das Privileg Ihren erlauchten Zofinger Stadtrat zu wählen. Doch was ist der Stadtrat überhaupt und warum sollten Sie wählen gehen? Der Service Public der Leserei bietet Ihnen dazu die Antworten.
Was ist der Stadtrat?
Der siebenköpfige Stadtrat ist die Exekutive der einzigen nennenswerten Schweizer Stadt, die mit Z beginnt, also die ausführende Staatsgewalt der Thutstadt. Wie die Beschreibung vermuten lässt, herrscht der Stadtrat als Gremium über die Zofinger Einwohnerinnen und Einwohner (also auch über diejenigen, die ihn gar nicht wählen durften) und leitet somit die Geschicke der Stadt.
Da nicht jede Stadträtin, jeder Stadtrat alles können muss (schliesslich handelt es sich bei den Mitgliedern um echte – wenn auch bessere und schönere – Menschen), teilen sich die Mitglieder des Stadtrats ihre Aufgaben in sogenannte Ressorts auf (Finanzen, Bau, Bildung, Kultur, Wetter, Zaubertränke, usw.), welche sie mit eiserner und fähiger Hand leiten.
Als Stadträtin, als Stadtrat müssen Sie viele endloslange Sitzungen erdulden. Dafür müssen Sie sich in sogenannte Dossiers einlesen und sich eine Meinung dazu bilden. Ein Problem ist, wenn Ihr Kollegium, der Einwohnerrat, eine Kommission oder gar einzelne Bürgerinnen und Bürger Ihre hehren Ansichten nicht teilen, dann ist das jeweils mühsam, denn dann müssen Sie Ihren Standpunkt erklären oder noch schlimmer, einen Konsens finden. Dies geht meist durch ausgiebiges diskutieren, zuhören, Weisswein trinken und Apéroplättli vernichten. Beruhigend für Sie zu wissen ist, Sie werden es nie allen recht machen können und so sind Ihnen ständige Aufmerksamkeit, Spott und Anfeindungen sicher.
Das gefällt Ihnen? Sie können sich das vorstellen? Sie wollen auch Stadträtin sein? Hier kommt der schwierige Part. Sie können sich nämlich nicht einfach mit sechs Freunden im Stadthaus einnisten und behaupten, Sie wären jetzt der Stadtrat. Nein, um Stadträtin zu werden müssen Sie gewählt werden. Wie das geht, fragen Sie? Jede stimmberechtige Einwohnerin kann sich auch wählen lassen. Das bedeutet, Sie müssen Wahlkampf betreiben (derzeit glücklicherweise ohne Hände zu schütteln und Babys zu halten) und klare Positionen vertreten, wie zum Beispiel:
Wenn Ihre Werte und Positionen genug (stimmberechtigte) Menschen ansprechen, dann haben Sie eine gute Chance die neue Stadträtin oder Stadtrat zu werden. Die Stadt wartet auf Sie!
Warum sollten Sie also wählen gehen?
Sollten Sie sich nicht selbst zu Wahl stellen wollen, dann wählen Sie doch jemand anderes. Einfach, weil Sie es können! Mit Ihrer Stimme habe Sie die Möglichkeit mitzubestimmen, wie der Stadtrat zusammengesetzt ist, denn damit können Sie nämlich indirekt auch mitbestimmen, wie sich unsere Bezirkshauptstadt weiterentwickelt, wie oft die Sonne scheint und ob Noel wieder Songs für Liam schreiben soll.
Cheryl Marti
Thut liebte das Skifahren ‐ nicht nur weil er dabei seinen knackigen Hintern perfekt in Szene setzen konnte (er hatte die bewundernden und neidischen Blicke schon vor Jahren bemerkt) - nein, auch sonst. Er mochte den Schnee unter den Brettern, die frische Luft in den Bergen, den Blick auf Gipfel im majestätisch schneeweissen Mantel, das Licht der Wintersonne, den Wind und das Spiel der Wolken. Er mochte sogar den Muskelkater, der ihn alljährlich daran erinnerte aus wie vielen Muskeln sein Körper bestand ‐ da war mehr als nur der durchtrainierte Po, und das ‚mehr‘ war offensichtlich nicht ganz so durchtrainiert. Jedenfalls mochte der Ski‐Thut alles was mit Skifahren zu tun hatte, auch den Aprés‐Ski, der sich dieses Jahr aber irgendwie seltsam anfühlte.
Klar, es liess sich auch ohne Ballermann‐Musik gut Bier trinken, genau genommen liess es sich ohne Mama Laudaaa und das rote Pferd sogar besser Bier trinken. Nur leider schloss die Bar gleichzeitig mit den Liften, denn schliesslich war sie nur da um die Skifahrer während des Sports zu versorgen und sobald der Skisport zu Ende war, sollten die Hobbyschneehasen schliesslich keinen Grund mehr haben sich länger in Rudeln zusammenzurotten. Thut wäre natürlich nicht Thut gewesen, hätte in der Unterkunft nicht bereits ein kühles Bier auf ihn gewartet. Und das Kaffee Schümli‐Pflümli trank er jetzt halt bereits um die Mittagszeit. Es liess sich also gut leben auf und neben der Ski-Piste und Thut genoss es. Er genoss das Skifahren und auch das Skiliftfahren, obwohl sich da hin und wieder unschöne Szenen abspielten. Wie beispielsweise auf dem Sessellift, als ein Skifahrer links von Thut hustete und das schon etwas in die Jahre gekommene Pärchen rechts von Thut sogleich rief: <<Häsch öppe Corona, dass du so hueschtisch?!>> (Er hatte ein Mal gehustet) <> Worauf der Skifahrer links von Thut zu seinem Sohn sagte: <> Selbstverständlich hatte Links-‐von‐Thut darauf geachtet seinen Kommentar laut genug zu äussern, damit Rechts-von‐Thut ihn auch hören konnten. So ereiferte sich das Pärchen rechts von Thut gleich in gehobener Lautstärke wer denn wohl zur Risikogruppe gehörte und weshalb die wirklich nichts auf den Pisten zu suchen hätten. Der Ski‐Thut wandte sein Gesicht der Sonne zu und überlegte kurz einen Hustenanfall vorzutäuschen, liess es dann aber bleiben und wünschte stattdessen allen einen schönen Tag, als er den Sessellift verliess und gekonnt sein Hinterteil von links nach rechts hüpfen liess, während er in kurzen Schwüngen den Berg hinunterwedelte.
Ahmed Ajil
Mit stocksteifen Fingern und einer auf gefühlt Erbsengrösse geschrumpften Harnblase schlendere ich durch die Strassen der Thutstadt, an diesem grauen Dezembernachmittag. Kalt wurde es, ganz plötzlich. Etwa so wie, ganz plötzlich, die zweite Welle einbrach. So ganz ohne Vorwarnung. War ja erst gestern, der Black Friday. Nicht der Konsum-Black-Friday, auch nicht der Black-Lives-Matter-Friday: der Corona-Black-Friday, natürlich. Der Tag, an dem hier alles anders wurde. Oder doch nicht. Noch nicht erholt hat sich Corona. Das Bier, natürlich. Die sträuben sich immer noch, das zu kaufen. Die Amis, natürlich. Vielleicht hilft Black Friday ein bisschen. “CoronaExtra20” und du kriegst Rabatt. 20%, oder 30%. Auf das Pack mit 24, natürlich. Kleiner geht nicht.
Denner spielt auch ganz vorne mit, dieses Jahr: «Wer an Black Friday seine Preise senken muss, ist an anderen Tagen zu teuer». Überall Plakate wie dieses. Ich muss schmunzeln. Und runzeln. Die Stirn, natürlich. Irgendwie komisch doch, dass sich Denner da so profilieren muss. Wie ein rebellischer Jugendlicher, irgendwie. Also so ein gut rebellischer: nicht rauchen, trinken oder Sex haben zu müssen wie alle Gleichaltrigen. «Nicht mitmachen ist cool…und clean». Stimmt ja auch, irgendwie. Aber wer so viel Geld in Plakate reinstecken kann, ohne dabei einen klar erkennbaren Nutzen davonzutragen, der ist ja dann wohl doch immer noch zu teuer. An allen Tagen.
Ich versuche auch, cool zu sein, dieses Jahr. Zu cool für Weihnachten. Nicht für die Weihnachtszeit an sich, natürlich. Das ganze Heimelige und die Lichtlein, die Deko und die Musik, das fand ich ja schon immer ganz schön. Durfte das alles immer geniessen, ohne den ganzen Geschenkestress. So wie heimlich ins Kino ohne Ticket. Hätten ja eh nie gross Zeit gehabt für die Geschenke, Mama und Papa. Die arbeiteten ja immer an Weihnachten. Nicht, dass das jetzt schlimm war, oder so. Aber es war halt einfach so. Dafür haben wir aber einen Weihnachtsstern ans Fenster gehängt. Integriert, irgendwie.
Nein, ich meine den Konsumdrang. Das fängt ja mit Black Friday schon an. «Schleichende Islamisierung», posaunen sie. «Schleichende Amerikanisierung», denke ich mir dazu. Darüber sollte frau mal schreiben. X-Mas und Valentine’s Day waren nicht genug. Jetzt haben wir noch Black Friday. Noch weniger Deutsch, noch mehr Cash. Eine schöne Bescherung.
Aber eben, cool bleiben. Eiskalt vorbeistolzieren an den Prozentschildern. Das gibt Coolness-Punkte. Kann man sammeln, wie bei Super Mario.
Ach, Weihnachten. Schon etwas heuchlerisch, das Ganze.
Denn Religion, das gehört ja irgendwie nicht mehr so zu uns. Das ist etwas, das machen die anderen. Mit all ihren Traditionen und Kulturen und so. Worte übrigens, die je nach Mund, aus dem sie kommen, anders zu klingen scheinen. Nein wir, wir sind hier post-Religion, post-Aberglaube, und post-Spiritualität, wir sind die Ritter, Richter und Erben der Aufklärung.
Tagein tagaus das stumpfe ultrasäkularisierte Gerede von Gesetzen ohne Gefühle. Nicht, dass Gefühle ohne Gesetze unbedingt immer besser wären. Aber alles rationalisieren, legalisieren, kodifizieren, systematisieren, digitalisieren, das geht ja dann doch etwas zu weit. «So will es das Gesetz»: Da bleibt das Menschliche doch zwangsläufig auf der Strecke liegen.
Doch Weihnachten, das ist eben noch das Überbleibsel von etwas Irrationalität: Es ist ja schliesslich die Geburt eines Propheten, oder Sohn Gottes, oder wie auch immer, die man da feiert.
An Weihnachten trotzt eben das Kollektiv ein kleines bisschen noch diesem neoliberalen Narrativ vom sich selbstgenügenden und -gefälligen Einzelkämpfer. Mann, natürlich. Irgendwie steht Familie und Beisammensein und einander etwas Gutes tun im Vordergrund. Wenn auch für eine kurze Zeit. Und wenn auch überschattet von der ganzen Kommerzialisierung und so.
Mit derselben Nonchalance, wie Säkularismus gepredigt und mit Zivilisation und Fortschritt gleichgesetzt wird, wird die Weihnachtszeit in ihrer zwar modernisierten, aber dennoch äusserst traditionsreichen Form weitergelebt. So ganz unbekümmert widersprüchlich. Und etwas heuchlerisch. Und trotzdem schön.
Weitergehen, Coolness-Punkte sammeln. Die Nase im Jackenhals eingegraben, Maske hoch- und Mütze runtergezogen. Ein Anblick, bei dem vor einem Jahr die patrouillierenden Polizisten die Hände schon am Holster gehabt hätten. Nun ja, Zeiten ändern sich. Ich richte meinen Blick nach oben. Denner steht da, in diesen klobigen, doch unverkennbaren Buchstaben. Rechts die Eingangstür: «Black Friday: Jeden Tag von 8 bis 20 Uhr». Kurzes Stirnrunzeln und Schulterzucken. Dann rein in die Wärme.
Cheryl Marti
Bisweilen wunderte Thut sich sehr. Über den Lauf der Geschichte, die Dynamiken der Gegenwart und die Welt grundsätzlich. Oft fragte er sich auch für wen er eigentlich damals die Fahne geschluckt hatte. Die Thut-Stadt war eine stolze Stadt gewesen, die zu bewahren er für richtig und wichtig gehalten hatte. Stolz war sie immer noch. Die Stadt. Thut jedoch – nun ja – er fragte sich, warum die Stadt sich denn ständig auf die Schulter klopfte – sie hatte – so schien es jedenfalls für Aussenstehende – in den letzten Jahren strategisch das Leben aus dem historischen Kern des Städtchen gehaucht. Beispielsweise hatte die Stadtregierung das Begehren von (wohlgemerkt nicht ortsansässigen, sondern nur potentiell finanziell betroffenen) Vermietern unterstützt, den einzigen Kulturveranstalter mit wöchentlichen Tanz- und Konzertveranstaltungen für junge Thuts ins Exil zu verbannen, und sie hatte in jüngster Vergangenheit Pläne geschmiedet, welche der alten Stadt endgültig den Garaus machen könnten.
Es ging um die chaotische Kreuzung am nördlichen Stadteingang. Alle Thuts waren sich einig, dass ein Kreisel den Verkehrsfluss erheblich erleichtern und die Unfallgefahr um einiges verringern würde. Doch die Stadtregierung hatte (aus unerfindlichen Gründen) beschlossen, wenn schon, dann richtig zu bauen, und deshalb – getreu dem Leitspruch ‚Sieben auf einen Streich‘ auch gleich die alte Fabrik mit den Künstlerateliers, einer Werkstatt und einer Brockenstube abzureissen und die Bäume im gegenüberliegenden Park zu fällen. So würde genügend Fläche entstehen um neben dem Kreisel eine grossflächige Überbauung hinzuklotzen, die Wohn- und Geschäftsräume für die besser betuchten Thuts bieten würde. In der grossangedachten Vision der Regierungsthuts würde im Untergeschoss der Überbauung eine moderne Ladenstrasse entstehen, inklusive Begegnungszone – man orientierte sich an Grossstädten, wie beispielsweise Zürich, wo die Allee der Europaallee auch aus Gebäuden anstelle von Bäumen bestand. Im Sinne der Nachhaltigkeit war das natürlich ein Schuss in den Ofen – Grünfläche gegen Beton würde nicht nur zur zusätzlichen Aufheizung der Stadt führen, sondern erhitzte im Moment auch die Gemüter einiger Nicht-Stadtrats-Thuts. Die Situation schien auswegslos, denn die Thuts hatten das Projekt bei einer Abstimmung sehr knapp gut geheissen – ob aus Nichtwissen oder Ignoranz war im Nachhinein schwer zu sagen.
Immerhin hatten die Regierungs-Thuts – vorausschauend, wie sie waren – auch gleich noch den Vertrag mit der Jugendherberge gekündigt, denn mit Besuchern war wohl kaum mehr zu rechnen, wenn die Stadt sich ihr Grab erst fertig geschaufelt hatte.
Nun ja, Thut wollte seine Aktion mit dem Fähnchen nicht missen, vielleicht waren die ruhmreichen Tage einfach vorbei, vielleicht musste er sich damit abfinden, dass es Thuts gab, die nur Geld verdienen und nicht leben wollten. Aber immerhin müsste er sich nie die Schuld an diesem Schlamassel geben. Er hatte die Fahne geschluckt und so seinen Beitrag zum Schutz der Stadt beigetragen. Nun hatte er die zweifelhafte Ehre auf dem Brunnen zu stehen und sich über die Machenschaften der andern zu wundern. Aber wer wusste, wie lange noch – vielleicht würde er dereinst auch einer Überbauung weichen.
Nicolas Scheibler
Aus dem Leben des Fri(e)da-Thuts
Sie wachen am Morgen in Ihrem warmen Bett auf und denken als erstes an Fri(e)da. Bereits während des Schlafs hatten sie sich unruhig hin und her gerollt und immer wieder von Fri(e)da geträumt. Sie werfen einen Blick auf das Kissen neben sich, doch da schläft wieder nur Ihre Partnerin, Ihr Partner, seelenruhig vor sich hin. Schön und gut, aber nun mal nicht Fri(e)da.
Sie strecken sich unter der Bettdecke, atmen tief ein und spüren tief in Ihnen drin diese altbekannte Erregung aufkommen, eine warme, stille Glut wieder aufflammen, dieses vertraute Kribbeln im Bauch. Ekstase, Fri(e)da!
Fri(e)da… unnahbar, vertraut und doch unbekannt. Verführerisch, heissblütig und unvergleichlich. Unfassbar intelligent, kreativ und willensstark. Fri(e)da, wie Sie sie schon immer kannten und nie wieder dergleichen trafen.
Wie ein Naturereignis kommt Fri(e)da in die Stadt und plötzlich ist sie da. Alles dreht sich um Fri(e)da. Was tut sie? Woher kommt sie? Wer ist Fri(e)da überhaupt? Sie ärgern sich darüber, dass alles was Sie über Fri(e)da zu wissen glauben nicht mehr ist als ein klitzekleines Steinchen in einem noch viel grösseren Mosaik.
Fri(e)da lässt Sie nicht los. Fri(e)da beunruhigt Sie. Fri(e)da wirft Ihr ganzes geordnetes Leben aus den geregelten Bahnen. Fri(e)da lässt sich nicht an Normen binden und genau das reizt Sie an ihr.
Sie haben Ihr eigenes Leben nach Ihren Vorstellungen geformt, eine gute Stelle gefunden, sind eine liebevolle Partnerschaft eingegangen, haben eine tolle Familie gegründet, eine passende Eigentumswohnung gekauft, nicht zu gross, aber auch nicht zu klein. Ihr Leben ist schön. Ihr Leben ist gut. Fri(e)da.
Fri(e)da ist anders. Fri(e)da ist all das, was sie dachten, das passe nicht zu Ihnen. Was Sie dachten, es sei Ihnen nicht so wichtig. Fri(e)da ist das gewisse Etwas, was Ihnen am Sonntagabend beim Tatort schauen fehlt. Fri(e)da ist die Gelegenheit von der Sie sich mal geschworen hatten, sie zu ergreifen, sollte sie sich wieder einmal ergeben. Fri(e)da ist die verpasste Chance, die sich nun doch ergreifen lässt.
Sie steigen langsam aus dem warmen Bett, begeben sich unter die Dusche und schauen sich danach ein bisschen länger als sonst im Spiegel an. Die Jahre waren gut zu Ihnen denken Sie sich und wissen, dass das auch stimmt.
Sie kleiden sich eine Spur eleganter als sonst und begeben sich ab dem 01.09.2020 in die Leserei, am Kirchplatz 14, in 4800 Zofingen, wo Sie alles über Fri(e)da zu erfahren hoffen.
Ahmed Ajil
Papa ?
Ja?
Hast du das gehört, von dem Mann, der totgemacht wurde?
Ja, hab’ ich, mein Sohn. Das ist eine sehr traurige Geschichte.
Papa, wieso hat der Polizist ihn totgemacht?
Ich glaube, er hatte Angst vor dem Mann. Und wenn man Angst hat, macht man Fehler. Manchmal fügt man anderen Schmerzen zu, wenn man Fehler macht.
Aber Papa, der war ja auf dem Boden, in Handschellen. Wieso sollten sie Angst haben vor ihm?
Ich weiss es nicht genau. Er sah vielleicht besonders furchteinflössend aus.
Aber Papa, der sah ja einfach aus wie du. Haben die Polizisten auch Angst vor dir? Und vor mir, wenn ich gross bin?
Nein, mein Sohn. Sie haben eigentlich keine Angst vor mir. Auch nicht vor dir, wenn du gross bist. Aber du musst auch immer aufpassen, dass du niemandem Angst machst. Deshalb sollst du nett sein, immer lächeln, die Regeln befolgen, nicht mit einer hochgezogenen Kapuze rumlaufen und nicht mit den falschen Leuten unterwegs sein. Und wenn die Polizei dich anhält, dann musst du nett sein, auch wenn sie nicht immer nett ist zu dir.
Papa, sind Polizisten böse Menschen?
Das ist etwas kompliziert. So, wie die Welt nun einmal kompliziert ist. Die Polizisten versuchen, ihre Arbeit zu machen, und manchmal machen sie Fehler.
Aber werden sie dann auch bestraft? Kann man Polizisten überhaupt bestrafen?
Ja, das kann man eigentlich. Auch Polizisten müssten bestraft werden, wenn sie jemandem zu Unrecht wehtun. Aber zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden…das ist nicht immer ganz einfach. Und weil diejenigen, die die Polizisten anklagen müssen, meist mit ihnen zusammenarbeiten, werden Polizisten leider sehr selten bestraft.
Das ist aber nicht fair, Papa! Das heisst doch, dass Polizisten böse Sachen machen dürfen, und davonkommen, einfach weil sie Polizisten sind!
Ja, mein Sohn, manchmal ist das so. Aber eigentlich machen sie ja keine bösen Sachen. Eigentlich beschützen sie uns ja. Eigentlich sind sie unsere Freunde und Helfer. Eigentl…
… Papa, wenn du manchmal sagst, du rufst die Polizei, wenn ich wieder mal böse bin, machen sie mich dann auch tot?
Nein, natürlich nicht. Du bist ja noch ein Kind.
Aber wenn ich dann gross bin, dann muss ich aufpassen vor ihnen, oder? Dann könnten sie mich totmachen?
Nein, mein Sohn, das tun sie nicht. Eigentlich tut die Polizei das nicht.
Aber manchmal schon?
Wenn du brav bist und die Regeln nicht brichst, dann passiert dir auch nichts, mein Sohn.
Okay Papa, aber was ist, wenn ich trotzdem irgendwas falsch mache?
Dann wirst du bestraft, wie alle, die die Regeln brechen. Du musst aber besonders brav sein und dich besonders anstrengen. Wir haben nicht alle dasselbe Recht auf Fehler.
Okay Papa, aber das klingt irgendwie nicht so fair. Es klingt fast, als müssten sich ein paar von uns mehr anstrengen, um nicht totgemacht zu werden?
Ja, mein Junge, die Welt ist nun mal leider etwas kompliziert. Aber wenn du dich anstrengst, dann passiert dir auch nichts. Und dann müssen Mama und ich uns auch keine Sorgen machen. Okay?
Okay, Papa.
Cheryl Marti
Als Mutter Thut an einem regnerischen Junimorgen das Altersheim verliess, schnürte die Wut ihr die Kehle zu. Sie war wütend auf diesen Virus, dessen Namen sie so satt hatte, dass sie ihn nicht einmal mehr in den Mund nehmen mochte, auf die Regierungs-Thuts, die Beamten-Thuts, die Gesundheits-Thuts, die Welt generell, den Lauf des Lebens im Speziellen und vor allem auf sich selbst.
Der Besuch bei Urgrossmutter Thut war ernüchternd gewesen. Die sonst rüstige Dreiundneunzigjährige war nicht wiederzuerkennen gewesen.
Vor zwei Monaten noch hatte sie am Telefon gesagt, sie würde gewiss nicht auf ihre Freiheit verzichten, nur weil ein paar Köpfe in Bern das Gefühl hätten, sie würde sonst bald unnötigerweise ein Spitalbett besetzen. Sie hätte zu lange für Freiheit gekämpft um sich jetzt von diesen jungen Schnöseln einsperren zu lassen. Mutter Thut hatte sich amüsiert, bei dem Gedanken, dass Urgrossmutter Thut sich über ‚die jungen Schnösel‘ beschwerte, die alle schon längst ergraut waren. ‚Ich werde wohl noch selbst bestimmen dürfen, wie ich meine letzten Tage verbringe‘, hatte Urgrossmutter Thut gesagt, ’niemand hat das Recht über meinen Körper zu bestimmen. Und die in Bern schon gar nicht.‘
Leider hatten die sich das Recht dann aber doch genommen und Urgrossmutter Thut daran gehindert das Altersheim zu verlassen. Nicht, dass Urgrossmutter Thut gewillt gewesen wäre, Folge zu leisten. Sie hatte das Gelände mehrmals mehr oder weniger erfolgreich versucht zu verlassen. Die Leitung des Altersheims hatte versucht sie von ihren Fluchtversuchen abzubringen – sie müsse doch an ihre Mitbewohnerinnen denken, wenn sie etwas einschleppen würde – sie wären alle dem Tod geweiht.
Das hatte Urgrossmutter Thut nur noch wütender gemacht ‚Wir sind sowieso alle dem Tod geweiht, Schätzchen, hast du schon jemals jemanden lebend hier rausgehen sehen? Und was soll denn an diesem Leben hier noch lebenswert sein?‘, hatte sie gefragt, ‚Wofür lohnt es sich zu leben, wenn wir uns nur noch in diesen grauen Gängen bewegen dürfen? Wenn sie keinen Besuch mehr zu uns lassen? Will ich meine letzten Tage mit dem Pflegepersonal verbringen? Nichts gegen das Pflegepersonal, aber die werden schliesslich dafür bezahlt, dass sie nett zu uns sind.‘
Mutter Thut hatte mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt Urgrossmutter Thut aus dem Heim zu holen. Und an diesem Junimorgen bereute sie zutiefst es nicht getan zu haben. Sie hatte die Zeichen falsch gedeutet, sie hatte gedacht, Urgrossmutter Thut hätte sich allmählich beruhigt, sich mit der neuen Situation abgefunden und auf bessere Tage gehofft. Sie hatte gedacht, der Rückgang der Wutausbrüche sei positiv zu werten. Natürlich hatte sie sich gewundert, dass die Anrufe weniger geworden waren, doch das war auch früher schon vorgekommen und Mutter Thut hatte sich den Umstand damit erklärt, dass Urgrossmutter Thut vielleicht Gefallen gefunden hatte an den Büchern, die sie ihr geschickt hatte. Doch der Grund war ein anderer gewesen. Urgrossmutter Thut war alt geworden. Die Wochen, die vom Alleinsein und mangelnder Bewegung geprägt gewesen waren, hatten sie mehr gezeichnet, als die letzten Jahre es vermocht hatten. Nun starrte Urgrossmutter Thut Löcher in die Luft und es brach Mutter Thut das Herz, dass sie nichts dagegen unternommen hatte.
Nicolas Scheibler
Ihrem Bildungsauftrag nahkommend, veröffentlicht die Leserei in unregelmässigen Abständen neueste wissenschaftliche Beiträge und Erkenntnisse. Nachfolgend präsentieren wir Ihnen den Kurzaufsatz von Prof. Dr. Alfred Quecksilber-Thut mit dem Titel «Das geheime Leben der Quokkas», erstmals erschienen in der aktuellen Ausgabe von «Beuteltier Heute», vom 31.05.2020:
Das geheime Leben der Quokkas
von Prof. Dr. Alfred Quecksilber-Thut
Das Quokka oder Kurzschwanzkänguru (Setonix Brachyurus) eine Beuteltierart aus der Familie der Kängurus (Macropodidae) und der einzige Vertreter der Gattung Setonix.
Das Quokka zeichnet sich dadurch aus, dass es cooler und niedlicher aussieht als die meisten anderen der Menschheit bekannten Tiere. Sein Erscheinen lässt sogar das kälteste Herz in einem Menschen schmelzen, was bedeutet, dass das Quokka damit auch die Hoffnung symbolisiert.
Das Quokka lebt im Westen Australiens, wo es meist in sozialen Gruppen in mediterranem Stil eingerichteten Eigentumswohnungen in Stadtzentrumsnähe lebt. Auch wenn das Quokka oftmals auch auf dem Land anzutreffen ist, bevorzugt es die Nähe der Vorstadt, wo es die Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz sowie die kulturellen Angebote nutzen kann.
Die ursprüngliche Ernährung des Quokkas ist strikt vegan. Das heisst, es ernährt sich vorwiegend von lokalen Pflanzen, Gemüsen und Kräutern. Die Nahrung wird meist lange in grossen Römertöpfen zubereitet und in öffentlichen Plätzen und Pärken unter den anwesenden Quokkas gerecht geteilt. Jedoch hat es sich gezeigt, dass Pizza in den letzten Jahren seinen Weg vermehrt auf den Speiseplan des Quokkas gefunden hat und dies auch mit allerlei nicht veganen Belägen. Wissenschaftler erklären sich diese Verhaltensänderung damit, dass Pizza einfach unwiderstehlich gut schmeckt.
Auch was die Fortpflanzung angeht sind Wissenschaftler daran erhebliche Veränderungen festzustellen. Lebte das Quokka früher in Familienverbänden wo es seine Geschlechtspartnerinnen und Partner inner- und ausserhalb dieser Gruppen fand, so scheint sich mittlerweile das «monogmous casual marsupial dating» durchgesetzt zu haben, wobei sich stets die gleichen zwei Beuteltiere für eine voraus vereinbarte Zeit treffen, ohne dabei eine feste, gesetzlich reglementierte Bindung einzugehen. Aus solchen Beziehungen entstandene Babyquokkas leben in der Regel in geteilter Obhut im Beutel beider Elternteile, unabhängig ihres Beziehungsstatus. Bemerkenswerterweise sind zwei-, gleich- und mehrgeschlechtliche Beziehungen sowie die damit zusammenhängenden Folgen für den Nachwuchs, wie in fortschrittlichen Gesellschaften üblich, rechtlich einander gleichgestellt.
Das Quokka und der Mensch begegnen sich im Alltag eher selten und wenn, dann meist nur im beruflich-professionellen Umfeld. Ehen zwischen Mensch und Quokka sind den Menschen von Gesetztes wegen verboten. Bei Quokkas ist die Ehe zwischen Mensch und Quokka zwar nicht verboten, wird von Quokkas aber auch meist nicht gewünscht und passt nach Meinung der meisten jüngeren Quokkas auch nicht in das moderne «monogmous casual marsupial dating»-System.
Das Quokka ist in der Regel ein kultiviertes und geselliges Beuteltier, welches ein gutes Buch dem Fernsehen vorzieht. Als Konsumverhalten hat sich das Quokka im Lauf der Evolution das bewusste Einkaufen angewöhnt. Es kauft nur diejenigen materiellen Gegenstände, die es dringend braucht und achtet dabei streng auf nachhaltige und beuteltierfreundliche Produktion.
Das Quokka ist bereit und willens, seinen Platz im endlosen Fortschreiten der Evolution wahrzunehmen und die Wissenschaft ist sich einig, dass der Mensch vom Quokka wohl noch einiges lernen und profitieren wird.
Elisa Marti
«Was meinst du, Wilma, wie wird man in der Zukunft über die Gegenwart berichten? Über dieses historische Ereignis, dessen Zeugen wir wohl oder übel geworden sind? Wird sich das System nachhaltig verändern? Werden wir auch noch zueinanderhalten, wenn die konkrete Bedrohung wieder zu einer unbestimmten Gefahr wird? Wird unsere Generation die Gelegenheit packen und die Weichen neu stellen? Werden sie in Zukunft bessere Arbeitsbedingungen haben, die Heldinnen und Helden der Stunde? – Ja, das sind grosse Fragen, Wilma…
Wilma? Warum sagst du nichts? Du könntest dich ruhig auch einmal dazu äussern. Jeder hat doch eine Meinung zu dem Thema. Alle sind sie Experten, posaunen aber in den absurdesten Tönen durch sämtliche Kanäle. Wie Süchtige auf Entzug geifern sie nach Aufmerksamkeit – ein knappes Gut in der Selbstisolation. Ich habe euch schon von Anfang an gewarnt, sagen sie. So hätte man es machen müssen! Aber ja doch, hinterher ist man immer klüger.
Wilma, du bist geduldig, bleibst auf Abstand. Arbeitest weiter und pflegst dein Netzwerk, so gut es eben geht. Ein bisschen solidarischer könntest du dich aber schon zeigen. Warst du überhaupt mal draussen in den letzten Wochen? Schon klar, daheim bleiben rettet Leben. Aber wie wäre es, wenn du mal den Einkauf übernehmen würdest? Dich für die Risikogruppen engagieren würdest, anstatt dich hier zu verkriechen?
Es ist schliesslich ein Privileg, jetzt zu Hause bleiben zu dürfen und gleichwohl seiner alltäglichen Arbeit nachzugehen. Sich aufs Sofa zu fläzen und endlich Zeit für die sich stapelnden, ungelesenen Bücher zu haben. Sich gemeinsam über zu wenig Bewegung und die leergekauften Regale im Supermarkt zu ärgern. Natürlich habe auch ich die Weisheit nicht mit Löffeln gegessen. Aber du siehst das bestimmt genauso, stimmt’s? Sag jetzt bloss nichts von natürlicher Selektion oder dass ein paar hundert gerettete Menschenleben die wirtschaftlichen Folgen nicht wert sind! Oder findest du wirklich, die Welt wäre ohne dein Grosi und deinen chronisch kranken Nachbarn besser dran?
Wilma? Hat es dir die Sprache verschlagen?»
Es blieb still. Die einzige Antwort der feingliedrigen Spinne in der Zimmerecke war eine leichtes Zucken im vordersten linken Bein, mit dem sie ihre Fäden stets im Griff behielt. Nach mehreren Wochen im selben Gefängnis meinte Thut zu wissen, was Wilma ihm damit sagen wollte: «Halt den Mund, du nervst.»
Ahmed Ajil
ach, die steine
denkt’s sich leise
in gewisser weise
sind sie meine.
zeugen seiner
wie so keiner
waren sie doch
stets dabei.
schweiss und blut
und freud und trauer
und weggespült
vom regenschauer.
vom höchsten sprung
zum tiefsten fall
luft anhalten :
dumpfer aufprall.
wo schreie hallten
gaffer starrten
zeit anhalten:
richtung urknall.
löwin verstummt
wölfin vermummt.
und thut, er summt :
ruh nun, die zunft.
zu, die unterkunft.
balken? knarren.
steine? ausharren.
jetzt gilt: vernunft.
was, fragt’s einsam,
hat gemeinschaft
mit gemeinsein
gemeinsam?
kritik einstecken.
die steine horchen
spitzen die ecken
kaum vernehmbar:
die pflastersteine
flüstert’s leise
in gewisser weise
sind sie meine.
(…absurde zeiten
schreien zuweilen
nach absurden zeilen…)
Celia Gerber
Spannend was das mit uns macht – der Virus verbreitet sich in unseren Körpern fast so schnell
wie er sich in unsere Köpfe schleicht. Egal wie stark physisches und psychisches Immunsystem
sind, irgendwie erwischt es jeden. Hat es mich nun tatsächlich auch erwischt, fragt sich der Exil-
Thut, als er als einziger Passagier im Zug in seinen Ellbogen niest. Immer der Massenpanik-
Skeptiker und Verfechter der Medien steht der Exil-Thut nun vor verschlossenen Grenzen.
Das bringt ihn nun tatsächlich ins Grübeln. Wie fragil die Ordnung doch ist, die wir erschaffen
haben. Keinesfalls artgerecht hat sich der Mensch-Elefant sein Haus mit Porzellan vollgestellt. Bei
jedem Husten gibt es Scherben. Welch ein Trümmerhaufen!
Die Reaktionen geben dem Exil-Thut die grössten Kopfschmerzen, nichts ist gefährlicher als eine
panische Elefantenherde. Vor allem wenn acht Milliarden Elefanten in einem Einfamilienhaus
wohnen.
Naja, nun ist sie da die Sorge. Kein Grund mehr es abzustreiten. Bekanntlich ist ja Einsicht der
erste Schritt zur Besserung.
Spannend was das mit mir macht, denkt sich der Exil-Thut. Ganz anders als zum Thema
Klimawandel – bei dem Verzweiflung und Frust aufkommen – fühlt er Klarheit und fast
Erleichterung. Ist dies das Gesellschaftliche Erdbeben, dass uns wieder auf die richtige Schiene
rütteln wird? Die Spannung des Wartens auf ein Drama hat sich gelöst.
Schwenkend zwischen Trauer um Einzelschicksale und der Hoffnung, dies sei die Chance auf
gesellschaftlichen Wandel, steigt der Exil-Thut beim nächsten Halt aus. Nicht sein Ziel, aber heute
für ihn die Endstation.
Zum ersten Mal in seinem Leben fehlt ihm eine Tasse in seinem Privilegien-Schrank. Ein
komisches neues Gefühl, aber noch lange kein Grund zur Panik. Er kann mit den übrigen Tassen
immer noch zum Kaffeekränzchen einladen. Wenn denn jemand kommt.
Ein unsichtbarer Virus macht unsichtbare Grenzen unüberwindbar. Der Mensch, Herrscher der
Welt, schlussendlich gekrönt. Im goldenen Käfig verhungert. In der Isolation, ja da ist jeder
wirklich sich selbst der nächste. Ach das Selbstmitleid.
Es hat mich erwischt, denkt der Exil-Thut. Ein einziger Gedanke hat sein Bewusstsein
übernommen, die anderen sind nur noch Hintergrundsummen. Totaler Fokus auf was er will und
braucht. Es fühlt sich an wie ein Aufwachen, ein tiefes Durchatmen am letzten Wintermorgen.
Stechend und durchtränkt mit der Ahnung von Fülle und Leben.
Oder doch lieber Klopapier kaufen?
Nicolas Scheibler
Journalistin: Sehr geehrter Herr Thut, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen unserem Lokalblatt ein Interview zu geben.
Business-Thut: Nichts zu danken. Als regelmässiger Leser der Neuen Zofinger Zeitung ist es mir natürlich eine Freude meinem Lieblingsblatt ein Interview zu geben.
Sie gelten laut der Zeitschrift Bilanz als der reichste Zofinger. Schmeichelt Ihnen dieser Titel?
(lacht) Ach wissen Sie, ich persönlich mache mir nicht viel aus Schlagzeilen und Ranglisten. Das ist etwas für den Boulevard. Aber was stimmt, ich bezeichne mich gerne und mit nicht wenig Stolz als Zofinger.
Ein schweiz- und weltweit bekannter Zofinger. Was sagen Sie zu dem hartnäckigen Gerücht, Sie hätten Ihren steuerlichen Hauptsitz in den Kanton Schwyz verlegt?
Das möchte ich nicht näher kommentieren. Nur so viel: die Steuerverwaltung der Stadt Zofingen sollte sich ernsthaft überlegen, wie sie die Stadt für Menschen wie mich steuerlich attraktiver machen könnte. Es ist doch so, dass Wohlverdienende wie ich der Stadt Zofingen und den Menschen in Zofingen viele Vorteile bringen. Auch wenn ich mein Einkommen nicht hier versteuere.
Inwiefern?
Zum Beispiel bin ich in Zofingen sehr gut vernetzt und kann Menschen und Ideen zusammenbringen. Ich habe durch meine Unternehmen etliche Arbeitsplätze hier in der Gegend geschaffen. Auch werden durch meine Stiftung etliche Sport- und Kulturvereine finanziell unterstützt. Ich bin sozusagen ein linker Kapitalist.
Ein linker Kapitalist? Mit Verlaub, es ist bekannt, dass Sie in Ihren Gastrobetrieben Ihren Angestellten knapp den Mindestlohn bezahlen.
…aber immerhin habe ich dafür gesorgt, dass das Trinkgeld unter allen Angestellten geteilt wird.
Das ist aber nett. Sie sind auch einer der grössten Immobilienbesitzer in der Stadt Zofingen. Wenn man die ständige Erhöhung der Mietpreise anschaut, fällt es einem nicht einfach, Ihr soziales Engagement zu erkennen.
Hier handelt es sich einfach um einen normalen Markt mit Angebot und Nachfrage. Hier kann ich als Eigentümer wenig Einfluss nehmen. Man muss auch bedenken, dass solche Altstadtgebäude sehr viel Unterhalt verlangen und wenn ich mit meinen Immobilien Geld verliere, ist in Zofingen auch niemandem geholfen.
Stimmt es, dass Sie mit Ihrer Stiftung etliche Vereinigungen unterstützen, die sich gegen den Lärm in der Altstadt engagieren?
Sie müssen wissen, dass Lärm in der Altstadt nach 22:00 Uhr einen negativen Einfluss auf den Wert meiner Immobilien hat. Ich selbst wohne zwar in einer Villa ausserhalb der Altstadt und bekomme den Nachtlärm nicht mit, kann aber den Ärger der anderen Liegenschaftseigentümern in der Altstadt natürlich nachvollziehen. Ich habe ja auch gerne Spass und ich finde Zofingen bietet dazu schon genug Anlässe, sei es der Zapfenstreich oder die Feste mit meinen Freunden von der Zofingia.
Wie wird man eigentlich zum reichsten Zofinger?
Hmm, gute Frage. Das habe ich mich noch gar nie so konkret gefragt. Ich würde mal sagen durch Inspiration, harte Arbeit und eisernen Durchhaltewillen. Man muss bereit sein, alles dem wirtschaftlichen Erfolg unterzuordnen.
…aber es hilft schon, dass Sie den Grundstein Ihres Vermögens mit dem Bezug eines Vorerbes Ihrer Eltern in zweistelliger Millionenhöhe legen konnten?
Natürlich war dies ein Katalysator für meinen finanziellen Erfolg. Wobei man diesen konkreten Betrag ja auch nicht überbewerten darf, handelt es sich doch um einen höheren mittelständischen Betrag, wie es sich viele Familien in der Schweiz erlauben können. Wichtig ist, was man daraus macht und dass man damit auch seine soziale Verantwortung wahrnimmt, die mit dem Wohlstand einhergeht.
Das ist ein schönes Schlusswort Herr Thut, ich danke Ihnen für dieses Interview.
Ich danke Ihnen, dass Sie sich Zeit genommen haben, mich zu interviewen.
Elisa Marti
Ihm war speiübel und bei jeder Kurve, die den Bus in eine spektakuläre Schieflage brachte, sank ihm das Herz ein Stück weiter in die Hose. Wie die beiden Israeli in den Sitzen neben ihm durch das Rütteln, Schwanken und ständige Hupen nicht aus ihrem Tiefschlaf fielen, war ihm unerklärlich. Den Spukgeräuschen zufolge war er jedoch nicht der einzige, der mit Kapriolen in der Magengegend zu kämpfen hatte. Doch war nicht auszuschliessen, dass es sich dabei lediglich um Einheimische handelte, die sich gewohnheitsmässig ihrer Betelnuss-Tabak-Spuke entledigten – das klang nämlich ziemlich genauso. Eigentlich wäre der Blick aus dem Fenster überwältigend gewesen: Mit immergrünem Wald überwachsene Hügel so weit das Auge reichte. Geniessen konnte er es trotzdem nicht. Hier handelte es sich um einen dieser Momente, in denen einem ein erschütternder Gedanke durch den Kopf schoss. Der Beginn eines Gedankenkarussells, das einem die eigene Vergänglichkeit unangenehm bewusst machte und das man schnellstmöglich zum Stillstand zwang. Nein, die Reise war hier noch nicht zu Ende. Und wenn doch, wäre es zumindest der Abschluss eines erfüllenden Abenteuers. Was er in den letzten Wochen alles erlebt hatte! Er hatte im Schritttempo in einem gefährlich knirschenden Zug eine hundertzwanzig Jahre alte, zweihundertfünfzig Meter hohe Brücke überquert, während unter seinem Sitz Mäuse umherhuschten. Er hatte Ballone über jahrtausendealte Tempel steigen sehen. Unzählige Buddha-Statuen hatte er bestaunt und barfuss sowohl stillfriedliche als auch lautüberfüllte Tempel begangen. Er hatte im indischen Ozean gebadet, Sand-Bubbler-Krebse Tag für Tag ihre Miniaturgärten anlegen sehen und einen vor dem Suppentopf geretteten Fischuhu bei seinen unbeholfenen Flugübungen beobachtet. Es waren nicht die im Reiseführer angepriesenen Sehenswürdigkeiten, die ihm in Erinnerungen bleiben würden. Es war die Familie, die ihr Heim für ihn öffnete und ihn an ihrem Leben teilhaben liess. Die köstlichen Gerichte, die in minimalistischen Küchen über dem offenen Feuer zubereitet wurden. Der Ausflug mit dem Guide, der kaum ein Wort Englisch sprach, sich aber trotzdem bestens zu verständigen wusste und die Tour mit seinem Witz zu einem unvergesslichen Erlebnis machte. Oder der junge, verwaiste Mönch, der sich bei seiner Ersatzmutter abends heimlich dem Bauch vollschlug. Aber genauso waren es die erschütternden Erfahrungen und Erkenntnisse, die er nie vergessen würde. Der Schock, als der Taxifahrer seine leere Trinkflasche aus dem Fenster zum Plastikfriedhof warf, der den Strassenrand säumte. Das Bewusstsein, dass ein paar Kilometer weiter alle Tage wieder Mensch und Tier durch Tretminen in die Luft gejagt werden. Der Schrecken, mit hohem Fieber einem überlasteten Gesundheitssystem mit notdürftiger Infrastruktur ausgeliefert zu sein. Das Unbehagen, Teil der Touristenmassen zu sein, die eine Gesellschaft, ihr Land und die Natur in den Ruin treiben konnte. All dies würde nicht spurlos an ihm vorbeigehen. Es würde ihn prägen, seine Denkweise und sein Handeln beeinflussen, selbst wenn er wieder zu Hause in seinem geregelten Alltag war.
Ahmed Ajil
750 Tage. So viele Tage ist er bereits eingesperrt, als sie heute morgen in seine Zelle kommen. Ohne anzuklopfen, wie immer. Er solle sich bereit machen für die Gerichtsverhandlung, wird ihm mitgeteilt, im für ihn mittlerweile natürlich gewordenen Tonfall, der jedoch jedes Mal deutlich macht, dass die in die Verfassung gemeisselten Grundrechte für ihn nicht gelten. Nicht für ihn, die Unperson.
«Wir haben es heute mit einem der berüchtigtsten Kriminellen der Thutstädter Geschichte zu tun, meine Damen und Herren. Dieser Unmensch hat es auf unseren Frieden und unsere Freiheit abgesehen. Aus dem dunklen Brühligenthal hergereist, hat er das von unserer Gastkultur grosszügig gewährte Asylrecht ausgenutzt, um unsere Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Als Staatsanwältin unserer wunderbaren Thutstadt kann ich es nicht zulassen, dass solch Gesindel ungeschoren davonkommt. Die Klägerin verlangt hiermit für den Beschuldigten…die Todesstrafe!»
Ein Raunen geht durch den Gerichtssaal. Die Journalisten twittern eifrig um die Wette. Der Richter fordert Ruhe. Er, der Un-Thut, der böse Andere, hat bereits am eigenen Leib erfahren, dass diese Justiz nicht mit gleichen Ellen misst. Über das strenge Regime der letzten Jahre sowie die unzähligen Einvernahmen hinweg ist ihm schon bewusst geworden, dass die Unschuldsvermutung hierzulande irgendwie in staubigen Lehrbüchern vergraben lag. Dass man jedoch eines Tages so skrupellos alles daran setzen würde, ihn als Inbegriff des Bösen und Schrecklichen darzustellen, damit hätte er niemals gerechnet. Hörte er doch aus der Ferne immer, die Thutstadt sei ein Paradies, das Land der Gerechtigkeit für alle. Aber alle sind nun mal nicht alle.
Verteidigen dürfe er sich sowieso nicht, hat man ihm bereits klargemacht. Er wohnt ja dieser Verhandlung auch nur als Objekt bei, nicht als Subjekt. Ein Blick zu seinem Verteidiger verrät aber: Dieser Prozess hat ihn altern lassen. Blass sitzt er da, regelrecht erdrückt vom Gewicht der öffentlichen Meinung. Die Anklage hat ihre Litigation-PR nämlich hervorragend geleistet: Niemand hat heute noch Zweifel an seiner Schuld, geschweige denn seiner Gefährlichkeit. Die Argumente der Staatsanwältin können unbekümmert auf dem roten Teppich zum Richterpult hoch stolzieren. Kaum verwunderlich daher, dass die Erwägungen und das Urteil des Richters praktisch deckungsgleich mit ihren Argumenten daherkommen.
Der Aufforderung, sich zu erheben, kommt der Beschuldigte nicht nach. Erneut ein Raunen und vereinzelte empörte Ausrufe in Richtung Anklagebank. Er hatte sich diesen Moment bildlich ausgemalt, ihn wieder und wieder in seinem Kopf durchlebt. Das ist seine einzige und letzte Möglichkeit, für sich selbst zu sprechen. Im Sitzen; denn stehen, um ein ungerechtes Urteil einer korrupten Justiz entgegenzunehmen, würde bedeuten, das letzte bisschen Würde aufzugeben, das ihm noch bleibt. Den Versuchen, ihn am Sprechen zu hindern, trotzend, verkündet er alsdann laut und deutlich:
«Meine Damen und Herren, ehrenhafte Thutstädterinnen und Thutstädter. Ich sitze vor Ihnen heute als ein gewöhnlicher Mensch. Aus einem fernen, dunklen Thal, bestimmt, doch nichtsdestotrotz… ein Mensch. Sie haben die Staatsanwältin gehört, die keinen Zweifel an meiner Schuld lassen möchte. Hängt doch für ihre zukünftige Karriere so viel daran, diesen Prozess als Erfolg zu verbuchen. Koste es, was es wolle; der Preis des Lebens eines Un-Thuts ist in Anbetracht des internationalen Ruhms, der sie erwartet, ohnehin ein Schnäppchen. Sie haben dem Experten Ihr Gehör geschenkt: Dieser bestätigte Ihnen, dass ich eine grosse Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle. Auf Gerüchte über uns Brühligenthaler verweisend, insistierte er darauf, dass Gewalt nun einfach in unserer Natur liege und wir den abendländischen Kulturraum, zu dem auch die prächtige Thutstadt gehört, zutiefst verabscheuen und ihm mit allen Mitteln schaden wollen. Belege zu liefern brauchte er nicht, denn seine Aussagen bestätigten lediglich, was Sie alle bereits zu wissen glauben – erleuchtet durch Ihre neutralen und ehrlich recherchierenden Medien. Meine Damen und Herren, zusammenhaltlose Indizien wurden systematisch zu meinen Ungunsten interpretiert und verzweifelt zusammengeflickt, um das Bild von mir zu schaffen, das Ihnen heute von Ihrer Justiz bestätigt wird. Mein Kopf wird rollen, ob die Wahrheit ans Licht kommt oder nicht. Doch meine letzten Worte möchte ich Ihnen widmen, werte Mitmenschen: Wenn sich die Gesundheit einer Gesellschaft an ihrem Umgang mit ihren Straftätern und Gefangenen messen lässt, so spiegelt sich in ihrem Umgang mit Beschuldigten ihr Sinn für Gerechtigkeit. Lassen Sie sich nicht täuschen: Heute wird nicht mir der Prozess gemacht, sondern Ihnen.»
Cheryl Marti, Ahmed Ajil, Celia Gerber, Elisa Marti, Nicolas Scheibler
Fortuna
Prekäre Bleistifte stöbern
Überglückliche Feindbilder klingen
Aalglatte Vorgesetzte absorbieren
Winzige Übeltäter lauern
Raumbedingte Kaninchen flanieren
Verkaterte Unzulänglichkeiten rauben
Ruhmreiche Ärztinnen küssen
Schreckliche Journalisten kochen
Gekrümmte Lieblingsbücher untermauern
Unzureichende Klobrillen beginnen
Vergnügte Bakterien verdrängen
Unerhörte Bananen schlafen
Nicolas Scheibler
Neujahrsansprache im ausverkauften Hörsaal der Leserei Zofingen am 01.01.2020, 14:00 Uhr.
Werte Bürgerinnen und Bürger, werte Mitarbeiterinnen dieser Kolumnerei, hochgeschätzte Anwesende.
Zuerst einmal möchte ich mich herzlich bei Ihnen für meine Wahl in diesem Herbst bedanken und bei denjenigen, die mich nicht gewählt haben, möchte ich mich dafür bedanken, dass Sie Wahlen akzeptieren, was in einer Demokratie mitunter entscheidend ist und zeigt, wie grossartig unser Land funktioniert.
Ich möchte mich auch dafür bedanken, dass Sie mich angefragt haben die Neujahrsansprache der Leserei zu halten, was für mich nicht nur eine Ehre ist. Nein, es bereitet mir als regelmässiger Kunde dieser Leserei auch sehr viel Freude dies zu tun.
Ein neues Jahr bringt immer Erwartungen, neue Herausforderungen und Ereignisse mit sich. Nicht nur auf nationaler und internationaler Ebene, sondern auch für jede und jeden von uns, im Kleinen, in der Familie, im Beruf und im Alltag.
Doch was auch immer auf uns zu kommen mag, ich bin überzeugt davon, dass es keine Herausforderung gibt, die wir nicht erfolgreich angehen können, wenn wir einander unterstützen und aufeinander Acht geben, wenn wir füreinander offen sind und aufeinander zugehen können.
Wenn ich mir für das neue Jahr etwas wünschen dürfte, wäre es wohl, dass wir als Gesellschaft und als Land wieder vermehrt zusammenwachsen würden, dass wir wieder mehr Rücksicht auf unsere Umwelt, unser Umfeld und die Schwächeren in unserer Mitte nehmen würden, dass wir gemeinsam dafür sorgen, dass wir alle von diesen grossartigen Möglichkeiten die unser Land bietet, profitieren können.
Ich wünsche mir, dass wir uns im neuen Jahr wieder vermehrt von Fakten und Inhalten leiten lassen und weniger von absichtlich geschürten Emotionen, Schlagzeilen und Clickbaits, dass auch die Medien wieder vermehrt ihre Verantwortung wahrnehmen und mit gut recherchiertem Journalismus ihren wichtigen Beitrag zur Information unserer Bevölkerung wahrnehmen, sei es hier in der Region oder im internationalen Bereich. Aber wichtig ist, dass auch wir als Bevölkerung, als Konsumentinnen und Konsumenten, dies unterstützen und so am ständigen Diskurs teilhaben.
Wie sie feststellen können, habe ich unverschämt viele Wünsche für das neue Jahr. Aber Dank Ihrer Wahl im letzten Herbst, kann ich hoffentlich meinen Teil dazu beitragen, dass einige meiner Wünsche für uns alle vielleicht ein bisschen erreichbarer werden.
Ich wünsche Ihnen, Ihren Familien und Angehörigen ein erfolgreiches, spannendes und sorgenfreies neues Jahr! Bleiben Sie rücksichtsvoll, achtsam und geniessen Sie die guten und schönen Seiten des Lebens. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Elisa Marti
Sie sassen im Kreis, die Augen geschlossen, im Kopf eine Frage, deren Lösung noch gefunden werden musste. «Stellt euch eine Balkenwaage vor und legt Optionen A und B in die Schalen. Dann dreht euch von der Waage weg, atmet einmal tief ein und aus, und schaut euch dann das Ergebnis an», wies die Workshop-Leiterin die Gruppe mit samtweicher Stimme an. Schlug die Waage aus, so war die Lösung gefunden.
Wenn es nur so einfach wäre, dachte Thut nüchtern. In dem Team-Workshop ging es darum, die eigene Intuition zu trainieren und zur Entscheidungsfindung zu nutzen. Im gehetzten Alltag (besonders im Vorweihnachtsstress) war Intuition ein kostbares Gut. Thut, der sich mit Entscheidungen jeglicher Art schwertat, war sehr gespannt auf das Ergebnis. Es hatte ihn anfangs einige Anstrengung gekostet, seine Skepsis zu überwinden und das gelegentlich in ihm aufsteigende Bedürfnis, angesichts der teils sehr skurrilen Workshop-Situationen laut loszulachen, zu unterdrücken. Die Coachin hatte ihm zur ersteren Problematik (letztere hatte er aus Höflichkeit verschwiegen) geraten, diesen wachsamen Teil seiner selbst zu nehmen und für die Dauer der Übung ein Stück neben sich zu platzieren. Aber eben, so einfach war das leider nicht: Die Skepsis schlich sich hinterrücks immer wieder in seinen Körper zurück. Nichtsdestotrotz versuchte er, sich auf das Experiment einzulassen und den Anweisungen zu folgen. Seine Frage war: Ferien, ja oder nein? Dies sorgte in der Gruppe für einige heitere Lacher. So schwer konnte die Entscheidung ja nicht sein, oder? Für ihn jedoch war sie es. Sollte er über Weihnachten ein paar Tage in die Berge fahren, abschalten und den Schnee geniessen? Man wusste schliesslich nicht, wie viele Jahre es in unseren Breitengraden noch welchen gab und etwas Erholung würde ihm nach den vergangenen intensiven Wochen auf jeden Fall guttun. Aber da waren auch seine über 90 Jahre alten Eltern, die beide auf seine Unterstützung angewiesen waren, und vor allem darauf zählten. Das symbiotisch lebende Ehepaar war vor Kurzem unerwartet und unfreiwillig getrennt worden, nachdem seine Mutter nach einem Sturz mit Oberschenkelbruch operiert werden musste, was seinen dementen Vater notgedrungen ins Pflegeheim katapultierte. Für Thut, der keine Geschwister hatte, bedeutete dies unzählige Telefonate, stundenlange Recherchen, Abklärungen und Krankenbesuche. Und dies neben einem anspruchsvollen Vollzeitjob. Seine Batterien leerten sich allmählich und er fühlte sich ausgelaugt. Ein paar freie Tage hatte er definitiv dringend nötig. Doch nun stand der Transfer seiner Mutter vom Krankenhaus ins Rehabilitationszentrum an. War es moralisch vertretbar, seine Eltern in dieser Situation allein zurückzulassen und es sich selber gut gehen zu lassen? Und dies über Weihnachten, dem Fest der Liebe und der Familie? Schwierig. Umso gespannter war er auf das Ergebnis der Intuitions-Übung. Also legte er seine beiden Optionen auf die mentale Waage, drehte sich innerlich weg, atmete tief ein und aus und blickte gespannt zurück. Wer hätte es gedacht: Die Waage hielt das Gleichgewicht. «Na, hat es geklappt?», fragte die Mentorin in die Runde. Nicht alle waren erfolgreich, aber bei manchen hatte die Waage tatsächlich Klarheit gebracht. Offen erzählte Thut, was sich in seinem Innern abgespielt hatte. Die Beraterin und das Team erörterten die Situation. Bestimmt würden seine Eltern wollen, dass er fährt und für sein eigenes Wohlergehen sorgt. Letztlich käme es auch ihnen zugute, wenn es ihm gut gehe. «Vielleicht musst du die Frage anders stellen», meinte jemand aus der Gruppe. «Welche Lösung ist für die Familie am besten?» Er würde die Übung daheim noch einige Male wiederholen müssen. Und vielleicht mit seinen Eltern darüber sprechen.
Ahmed Ajil
Es ist, als würde er durch mich hindurchblicken, mit seinen grossen, neugierigen, unschuldigen Augen. Augen, die Farben vereinen, die ich in dieser Kombination in Augen noch nie gesehen habe: Schwarz und Grün und Rot, etwas Blau und ein Hauch von Violett. Er neigt den Kopf sanft nach rechts und ein paar Sandkörner rollen von seinem pechschwarzen Haar Richtung Erde. Die Füsse fest im Sand verwurzelt, die knallorange-schwarz karierte Badehose hochgezogen bis zum Bauchnabel, der nackte Bauch leicht durchgedrückt, der rechte Arm senkrecht runterhängend, der linke in die Hüft gestemmt, der Mund etwas geöffnet, der Unterkiefer kaum merklich vorgeschoben, die Unterlippe Richtung Boden gekrümmt: Eine Postur, die er vermutlich stundenlang halten könnte, so mühelos scheint sie. Sein Blick hingegen ist angespannt: die Verspieltheit von vorher ist verschwunden. Breit gemacht an ihrer Stelle hat sich ein Ausdruck von Verwirrung, oder Verwunderung, von leichter Empörung, oder Verzweiflung.
“Juan!”, schreie ich in seine Richtung, “Juanito!”. Doch er regt sich nicht. “Juanito!”, schreie ich wieder, doch realisiere im selben Moment, dass aus meinem Mund kein Ton kommt. Dann merke ich, wie mir heiss ist, und eine Schweissperle meine Stirn runterzukullern beginnt. Als ich Anstalten mache, sie wegzuwischen, landet meine Hand auf einem flauschigen, filzigen Stoff: Eine Mütze! Was habe ich denn bitte mit einer Mütze am Strand verloren? Böses ahnend wende ich meinen Blick nach unten, wobei mein Kopf in einem ungewohnten Winkel steckenbleibt, da irgendetwas gegen meine Nase drückt. Als ich mein Kinn weiter Richtung Brustkorb forciere, beginnt allmählich ein riesengrosser weisser Flauschbart mein Blickfeld zu füllen. Und auf einmal fällt mir alles wieder ein. Natürlich! Heute bin ich ja der Chlaus-Thut! Aber wieso denn hier, an einem mexikanischen Strand? Ich sollte doch in der Thutstadt sein. Juanito steht noch immer da, grinst jetzt aber sichtlich amüsiert. Er fängt an zu lachen; zuerst subtil kichernd, dann lauthals herzlich. Da ist es wieder, das verspielte Lachen von vorher! Ich versuche, mit einzustimmen, doch bin noch immer stumm. Juanito aber wird immer lauter, sein Körper bebt immer stärker und mit ihm die Erde; der Sand hüpft im selben Rhythmus hoch und runter und die Wellen im Meer hinter ihm werden höher und gewaltiger, bis sich eine in Übergrösse vor mir aufrichtet und mit unglaublichem Getöse, begleitet von Juan’s nunmehr ungeheuren, hämischen Gelächter, auf mich runterkracht und mich unter ihr begräbt.
Nach Luft ringend schnelle ich hoch, reisse die Augen auf und will gerade losschreien, als ich all die Gesichter vor mir erblicke. Dutzende von Kindern, die mich kreischend umzingeln. «Hey, geht’s?», fragt mich eine besorgte Stimme von links. Es ist Clementina, die ein leeres Glas in den Händen hält. Sie muss mir wohl Wasser ins Gesicht geschüttet haben, um mich zurückzuholen. Ohje! Ich hatte sie doch vorgewarnt, es sei keine gute Idee, mich als Samichlaus zu engagieren. Ich kann mit Kindern einfach nicht. Doch ihr zuliebe hatte ich eingewilligt. Ich reibe mir die Augen und schaue sie an: Sie hält den Kopf leicht geneigt und ihr schwarzes Haar streckt sich Richtung Fussboden, sachte hin und her schwingend. Die dunklen zusammengeschobenen Brauen bringen ihre bezaubernden Augen noch mehr zur Geltung. Am liebsten würde ich ihr an den Hals springen und mich an sie klammern, wie an einen Felsen in der Brandung. Wie umwerfend schön sie doch ist! Doch das mit uns, das wird nie funktionieren. «Es tut mir leid, Clementina, ich kann das nicht.». Ich ziehe die Chlaus-Mütze vom Kopf und befreie mich vom ohnehin unangenehm juckenden Chlaus-Bart, drücke ihr die Requisiten in die Hände und verlasse langsam, noch immer etwas benebelt, schweren Herzens und dennoch erfüllt mit einer gewissen hoffnungsvollen Leichtigkeit, das Klassenzimmer. Das Kreischen der Kinder ist verstummt, doch Juanito’s Lachen hallt weiter unablässig in meinen Ohren.
Cheryl Marti
Mutter Thut hatte viele Kinder, aber nur zwei, die sie tatsächlich ihre leibeigenen nennen konnte, und auf diese zwei war sie ganz besonders stolz. Nicht, dass sie die anderen weniger geliebt hätte – eine Mutter liebt so viel sie kann – und sie würde nie im Leben sagen, dass sie ein Kind dem anderen vorziehe. Aber diese zwei, die sie schon seit ihrer Entstehung kannte – nun ja, das Verhältnis zu ihnen war irgendwie anders.
Mutter Thut trug ihren Stolz selbstverständlich nicht immer und überall offen zur Schau, es war ihr zuwider sich mit ihren Kindern zu brüsten, aber – das konnte sie nicht abstreiten – wenn irgendjemand in irgendeiner Weise ihren Kindern oder einem anderen Menschen, den sie liebte (denn eine Mutter liebt so viel sie kann) zu nahe trat, dann plusterte sich ihr imaginäres Federkleid und sie fühlte sich stark und mächtig wie eine Glucke und verteidigte ihr Liebsten gerade ebenso.
Beispielsweise auch das eine Mal als Mutter Thut mit ihren Kindern im Zug sass und Tochter Thut das Bedürfnis hatte ihr Stimmorgan zu testen. Denn Tochter Thut fand grossen Gefallen an Letzterem und an sich selbst ganz allgemein. Mutter Thut hielt es nicht für nötig sie davon abzuhalten, denn jeder Versuch hätte nur dazu geführt, dass Tochter Thut sich ein Spiel daraus gemacht hätte noch lauter und noch öfter zu kreischen. Mutter Thut hatte eine andere Strategie – Ablenkung. Was im Zug grundsätzlich auch kein Problem war, da es Fenster und andere Fahrgäste gab. Doch irgendwann befand Tochter Thut, dass es noch einmal an der Zeit wäre, herauszufinden, wie laut sie ihre Stimme erheben könnte.
Zu laut – befand ein Passagier, der sichtlich erbost von seinem Sitz hochfuhr – Mutter Thuts Fecken reckten sich in ihrem Nacken, als sie den Mann mit betont freundlicher Stimme darauf hinwies, dass man sich in einem sogenannten Familienwagen befand. ‚Jo, aber echli Astand!‘, meinte der Pendler fassungslos, als er, ohne sich umzudrehen mit seinem Velohelm in der Hand, dem Rucksack auf der Schulter, aus dem Wagen stürmte.
Selbst beim Schreiben dieser Zeilen wunderte sich Mutter Thut noch über diesen Satz. Sie begriff gar nicht so ganz, was er ihr damit hatte sagen wollen. Hatte er behaupten wollen, dass er als zweijähriger Knirps das Feingefühl gehabt hatte, auf die sich nach Ruhe sehnenden Mitfahrenden im Zug Rücksicht zu nehmen und sich still mit sich selbst zu beschäftigen? Oder hatte er Mutter Thut sagen wollen, dass seine Mutter (und dabei hätte er sich aufgeblasen wie eine Taube auf Brautschau) ihren Kindern den Anstand schon mit der Muttermilch eingeflösst und ein derartiges Verhalten in der Öffentlichkeit niemals toleriert hätte. Niemals! Denn seine Mutter sei schliesslich eine anständige Frau gewesen.
Ja, gut möglich, dass er ihr das hatte sagen wollen, und insgeheim hoffte Mutter Thut natürlich, dass ihre Kinder ihre Ehre auch einmal auf solch heroische Art und Weise verteidigen würden – auch wenn Mutter Thut ihrerseits vielleicht keine anständige Frau war.
Nicolas Scheibler
Die Zeit der geschlossenen Grenzen scheint mehr denn je vorbei zu sein.
Gestern unterzeichneten der Gemeinderat der Gemeinde Oftringen und der Stadtrat der Stadt Zofingen auf neutralem Strengelbacher Gemeindegrund ein historisches Abkommen.
Das «Abkommen über die Personenfreizügigkeit zwischen der Gemeinde Oftringen und der Stadt Zofingen» garantiert den Einwohnerinnen und Einwohnern beider Gemeinden freien Zugang zum jeweiligen Arbeitsmarkt sowie das Recht, in der jeweils anderen Gemeinde Wohnsitz zu nehmen und Familienmitglieder nachzuziehen. Dieses historisch einmalige Abkommen tritt gemäss Recherchen der Leserei per sofort in Kraft.
«Mit diesem Abkommen wollen die beiden grössten Gemeinden des Bezirks Zofingen auf die wachsende Mobilität ihrer Einwohnerinnen und Einwohner und das Bedürfnis nach flexibleren Wohnsitzen sowie dem Bedarf an Fachkräften nachkommen.», lässt der Oftringer Gemeinderat einem offiziellen Communiqué verlauten.
Der Zofinger Stadtrat seinerseits lässt verlauten: «Die Studie einer von den beiden Gemeinden beauftragten internationalen Consulting Firma hat ergeben, dass heute ein Grossteil unserer Einwohnerinnen und Einwohner nicht mehr ihr ganzes Leben lang in ihrer Gemeinde wohnhaft bleiben und dass viele Bürgerinnen und Bürger es sich vorstellen können, ausserhalb ihrer Heimatgemeinde einer Arbeitstätigkeit nachzugehen. Der Zofinger Stadtrat nimmt die Ergebnisse der Studie mit Erstaunen zur Kenntnis und reagiert entsprechend mit der Ratifizierung dieses Abkommens.»
Ob die Zusammenarbeit der beiden Gemeinden in Zukunft auch noch in anderen Bereichen intensiviert werden soll, ist derzeit gemäss offiziellen Angaben noch völlig offen. Gut informierten Quellen zufolge soll demnächst das Oftringer Kinderfest ganz nach Zofingen ausgelagert werden. Wenn auch bestimmt nicht aus Kostengründen.
Bereits haben weitere Nachbargemeinden u.a. Strengelbach, Rothrist und Aarburg, ihr Interesse an einem Beitritt an diesem Abkommen kundgetan. Hingegen andere Gemeinden wie Brittnau oder Uerkheim, schliessen einen Beitritt zum regionalen Freizügigkeitsabkommen vehement aus.
Was die Zukunft diesem Abkommen und der Region Zofingen bringen wird, ist derzeit noch völlig offen. Es wird sich zeigen, ob die Menschen in der Region Zofingen überhaupt Grenzen überwinden wollen.
Elisa Marti
Sie sassen im Stau. War ja eigentlich zu erwarten gewesen, zwischen Bern und Zofingen ist die Autobahn schliesslich zu jeder Tageszeit verstopft. Ähnlich stockend verlief der Konversationsfluss zwischen Thut und seinem Arbeitskollegen, die Gesprächslücken füllte seichte Popmusik aus dem Autoradio. Wäre es sein Fahrzeug gewesen, Thut hätte längst den Sender umgestellt. Aber man kannte sie ja, die unliebsamen «Ich-kann-mich-nicht-entscheiden-welches-Lied-ich-hören-will»-Typen, die, kaum hatte man sich als Mithörer mental auf ein Musikstück eingelassen, abrupt den Song wechselten und kein einziges Lied zu Ende spielen liessen. Diesem Habitus wollte Thut auf gar keinen Fall entsprechen, also fügte er sich, liess sich von der Musik berieseln und durchforschte seine Gedanken nach einem geeigneten Gesprächsthema. Etwas Gehaltvolles am besten. Oder doch besser etwas Zwangloses, Small-Talk-Kompatibles? Etwas aus den Ferien vielleicht? Gerade als er den Mund öffnete, um eine Anekdote zum Besten zu geben, ging das Musikstück zu Ende und die Radiosprecherin setzte zu den Nachrichten an. Gleichzeitig schoss die Hand des Arbeitskollegen zum Radio und drückte hektisch darauf herum, von einer Frequenz zur nächsten. «Nein, nein, nein! Keine News, keine News, keine News!», murmelte er, während Sprachfetzen aus den Boxen flatterten, bis sich schliesslich erneut Musik zum eintönigen Brummen des Autos gesellte, das nun endlich wieder vorwärtskam. Verwundert blickte Thut hinüber zu seinem Mitfahrer. «Ich lese gerade das neue Buch von Rolf Dobelli und mache jetzt ein Digital Detox!», erklärte dieser daraufhin. Er habe den News abgeschworen, die ständig seine Aufmerksamkeit einfordern, ihn ablenken und unterbrechen, Fokus und Tiefe kosten. Süchtig sei er. Nach Neuigkeiten. Bloss nichts verpassen! Thut fühlte sein gelegentlich aufflackerndes Schuldbewusstsein schwinden. Er fand ja immer, er sei viel zu schlecht über das aktuelle Weltgeschehen informiert. «Wenn etwas wirklich Wichtiges passiert, erfährt man es ohnehin von irgendjemandem», argumentierte sein Arbeitskollege. Thut nickte. Zwar konnte er nicht immer sofort mitreden, aber das Wichtigste wurde einem in der Regel relativ bald von irgendwem mitgeteilt und schon beim nächsten Gespräch war man wieder diskutierfähig. «Diese Strategie baut aber darauf auf, dass die ANDEREN ständig up to date sind», merkte Thut nachdenklich an. «Ach, wirklich relevant für unseren Alltag sind die News doch eh nicht!», ereiferte sich der Arbeitskollege. Viel zu viel Junk! Wo der beste Insta-Spot liegt? Sowas könne man tatsächlich in den Online-Zeitungen lesen! Und was kümmere ihn schon, ob Bruno Bünzli oder Milan Milanovic in Bundesbern sitzt? «Aber…», setzte Thut an, doch sein Arbeitskollege war nicht mehr zu bremsen. Welcher Staatsmann welche Staatsfrau mit einem Besuch beehrt hat? Welchen Bullshit Trump wieder per Tweet deponiert hat? Wie der Sturm heisst, der am anderen Ende der Welt tobt? – «Oder dass der Regenwald brennt, die Weltmeere in Öl und Plastik versinken, Bergwerke wie Fabriken einstürzen und was wir mit all dem zu tun haben, obwohl es nicht direkt vor unserer Haustür geschieht?», fiel Thut in die Tirade ein. Auf die sekundenlange Stille folgte die sonore Stimme des Nachrichtensprechers.
Ahmed Ajil
«Und wieder einmal wurde gestern Sonntag der Thutplatz zum Schauplatz von Protesten und Ausschreitungen. Anhänger der extremistischen Gruppierung RIG («Rauche isch geil») stiessen dabei auf Sicherheitskräfte, welche sich aus Anti-Terror-Einheiten der Regionalpolizei sowie Spezialkräften der Schweizer Armee zusammensetzten. Ein Dutzend Extremisten wurden verletzt und mussten für Untersuchungen und Behandlungen ins Zofinger Spital eingeliefert werden. Eine Gruppe von vigilantistischen Identitären versuchte, die Ambulanz an der Ausfahrt zur General-Guisan-Strasse zu hindern. Ein RIG-Mitglied wurde von einem Gummischrot am linken Ohr getroffen und ringt momentan um sein Leben. Mehrere Polizisten erlitten ebenfalls leichte Brandverletzungen, verursacht durch Zigarettenstümmel, …»
Pha! Extremisten nennen sie uns. Das ist ja wohl eine feige Art, uns jegliche Legitimität abzuerkennen. Darüber, dass wir unbewaffnet auf die Strasse gingen und uns erst mit Gewalt wehrten, nachdem diese Brutalos ihre Schlagstöcke eingesetzt hatten, steht natürlich nichts. Ist ja kaum verwunderlich, dass die Medien wiedermal als Sprachrohr des Staats fungieren. Ein Staat, der sich einen Dreck darum schert, dass diese Abzocker-SBB schamlos provokative und polarisierende Plakate in den Bahnhöfen verteilt.
«…Grund für die gewalttätigen Demonstrationen scheinen die neuen Werbekampagnen des VÖV zu sein. Die Raucher fühlten sich durch die Plakate stigmatisiert, meint Extremismusforscher an der ZHAW, Prof. Dr. Prof. Experte Hobi Jektiv: «Den blauen Hintergrund und sarkastischen Unterton der «Good News» erachtet ein grosser Teil der Bewegung als frivol. Das Blau steht im markanten Gegensatz zum Weiss, wobei die Farbe Weiss ganz klar Reinheit und Unschuld symbolisiert.» Die meisten Mitglieder der RIG hätten traumatische Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung erlebt, weshalb es in der Tat nicht verwunderlich sei, dass sie auf eine derart anstössige Werbekampagne empört reagierten. «Gewalt darf man natürlich nicht rechtfertigen, aber hier muss man sich schon fragen, ob die SBB nicht unnötig Öl ins Feuer gegossen hat.», fügt Prof. Dr. Prof. Experte Jektiv an…»
Natürlich haben sie Öl ins Feuer gegossen, und zwar ganz bewusst! Und ewig kann man sich auch nicht auf den Deckel geben lasen. Ausser uns tut schliesslich sowieso niemand was. Wir RIGger stehen ein für die Unterdrückten! Wir kämpfen gegen dieses Machtkonstrukt! Bei den Plakaten bleibt’s nämlich nicht – all die Möchtegern-Intelligenzler ergattern sich auch noch Ruhm auf unsere Kosten…
«…In seinem Buch «Rauchen und Identität» schreibt der amerikanische Soziologe Willy Supersmart, dass Raucher tiefreichende Identitätskrisen mithilfe ihres exzessiven Konsums zu überbrücken versuchen: «Es sind Aussenseiter, Loser, Marginalisierte, Auf-der-Strecke-gebliebene, die sich dieser Bewegung annähern. Nach einer langen traumatisierenden Phase der Einsamkeit finden sie in der Gruppe Zusammenhalt und Selbstwert. Die Radikalisierung passiert danach ganz von alleine.»»
Was soll man denn da noch sagen? Die Politiker, die Medien, die Wissenschaft – der ganze öffentliche Diskurs ist durchzogen von diesem entfremdenden Schwachsinn. Genug von dieser ewigen Spaltung unserer Gesellschaft, von welcher schlussendlich nur die Politiker profitieren. Gibt es denn gar niemanden, der was taugt, da in Bern? Mit dem Einzug von KKK… äh, KKS, in den Bundesrat, ist’s auf jeden Fall nicht besser geworden… Aber halt mal. Sind denn nicht bald Wahlen? Nächste Woche schon! Vielleicht sind da ein paar Kandidatinnen dabei, die sich auch wirklich für die Schwächeren und Unterdrückten einsetzen? Das sind wahrscheinlich auch diejenigen, die am wenigsten Geld für die Wahlkampagnen haben und daher wohl umso mehr auf unsere Beteiligung angewiesen sind. Jede Stimme zählt!
Cheryl Marti
Bis anhin hatte ihm sein Praktikum sehr viel Spass gemacht. Die Arbeit in der Leserei war abwechslungsreich, brachte jeden Tag Überraschungen und neue Herausforderungen mit sich, lehrte ihn viel über Literatur, über den Umgang der Menschen mit Büchern, über die unterschiedlichen Bedürfnisse und Vorlieben der Lesenden und über das Geschäft mit Büchern ganz allgemein.
Er mochte die Überraschungen und Skurrilitäten seines Arbeitsalltags. Er schätzte sie. In gewisser Weise schätzte er sogar seine Chefin. Nur dieser Vorschlag mit der Kolumne, der zerlas ihm das Hirn. ‚Schreib etwas aus deinem Leben als Stadtpromi‘ – sie hätte ebenso gut sagen können ‚Schreib etwas aus dem Leben des Nacktmulls‘ – nicht, dass es nichts Spannendes über den Nacktmull zu schreiben gegeben hätte – es interessierte wohl einfach niemanden ausser ihm.
Klar – er hätte über die Sache mit den drei Damen und dem Hühnerei schreiben können. Die war sogar ziemlich lustig gewesen – auch für Menschen mit einem etwas weniger schrägen Humor. Aber er hatte dieser Geschichte bereits ein Gedicht gewidmet, und er wollte ja nicht ideenlos wirken und immer wieder dasselbe erzählen.
Vielleicht sollte er etwas über das Eröffnungsfest der Leserei schreiben? Er könnte darüber schreiben, dass 350 Gäste gekommen waren um die Buchhandlung zu taufen, und, dass nicht einer davon für das örtliche Tagblatt schrieb. Aber erstens war das deren Pech, wenn sie die Party des Jahres sausen liessen um über wichtigere Dinge zu berichten, und zweitens wurde Thut etwas mulmig bei dem Gedanken sich ganz alleine gegen einen Haufen professioneller Journalisten aufzulehnen.
Andererseits – vielleicht – wenn er sich ein wenig exponieren würde – wäre seine Chefin dann beeindruckt. Sie sagte doch immer, die Jungen heute würden sich nichts mehr trauen.
Vielleicht – wenn er ihr beweisen könnte, dass er sich etwas traute – würde sie ihm ein wenig mehr Verantwortung übertragen? Vielleicht, dachte Thut, würde sie sogar erwägen ihn irgendwann fest anzustellen! Vielleicht wäre das seine Chance auf einen richtigen Job! Mit Arbeitsversicherung und echter finanzieller Entlöhnung. Mit bezahlten Ferien, vielleicht sogar mit bezahlten Überstunden?
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, sagte sich der Praktikanten-Thut, und machte sich voller Tatendrang an seine erste Kolumne. Als er sie stolz der Chefin vorlegte, wurde sie stutzig – ‚Ach ja – die Kolumne – die hatte ich schon fast wieder vergessen. Vielen Dank.‘
Nicolas Scheibler
An einem eigentlich normalen, ruhigen Dienstagvormittag, 10. September.2019, um 9.30 Uhr, im Sitzungszimmer der Redaktion der Leserei, Kirchplatz 14, 4800 Zofingen, wenige Zehntelsekunden vor der langersehnten Kaffeepause:
«Weisst du, was lässig wäre, mein lieber Thut?», fragte die Chefin voll gefährlicher Begeisterung.
Schon bei diesen ersten Worten der angefangenen Konversation war es Thut schlagartig klar, dass mit den nachkommenden Worten nichts «Lässiges» folgen würde. Das tut es nie.
«Du könntest doch eine kleine Kolumne aus deinem Leben schreiben!»
«Wie meinst du das, eine Kolumne aus meinem Leben? Wer interessiert sich schon für mein Leben?»
«Na ja, du weisst schon. Aus deinem Leben als ‘Stadtpromi’, von deiner berühmten Zofinger Familie, aus deinen Erfahrungen als Praktikant hier in der Leserei, aus deiner aufregenden Freizeit, halt alles, was dich beschäftigt und bewegt.»
Thut verzog das Gesicht, hoffend, dass sich das Ganze als Scherz herausstellen würde und er sich endlich zur rettenden Kaffeemaschine begeben könnte. Er versuchte es mit nonverbalem Widerstand, doch das ernsthaft begeisterte Gesicht der Chefin liess keine Zweifel offen. Sie meinte es ernst und hielt es erst noch für eine gute Idee. Ihre gute Idee.
Über was sollte er schon schreiben? Sein Leben? Er hatte Zofingen ja noch nie verlassen, abgesehen von einem kurzen Intermezzo in Sempach, welches sich als wenig erfolgreich herausstellte. Seine Familie? Seine ‘aufregende’ Freizeit? Sein Leben als Praktikant? Was für eine bescheuerte Idee!
«Du könntest das jeweils nach Feierabend in der Leserei machen, so wärst du ungestört von dem ganzen Trubel hier. Das wäre doch super für deinen Lebenslauf, meinst du nicht? Das würde natürlich nach Ende deines Praktikums positiv in deinem Arbeitszeugnis erwähnt werden.»
Nein! What the…! Niemals! Nein! Nie, nie nie! Vergiss es! ¡No, nunca jamás! No way! Nein, nein, nein! Verdammt, ich brauche dieses Praktikum!
«Klar kann ich das machen. Wann möchtest du den ersten Text haben?»
Was des Gutsherrn der Sklave war, ist dem Unternehmer der Praktikant.
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